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Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan

Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan

Titel: Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
Autoren: Kathy Reichs
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1
    »Ich bin tot. Sie haben mich auch umgebracht.«
    Die Worte der alten Frau stachen mir ins Herz.
    »Bitte erzählen Sie mir, was an diesem Tag passiert ist.« Maria sprach so leise, dass ich Mühe hatte, ihr Spanisch zu verstehen.
    »Ich habe meine Kleinen geküsst und bin auf den Markt gegangen.« Die Augen niedergeschlagen, die Stimme tonlos. »Ich wusste nicht, dass ich sie nie wieder sehen würde.«
    Aus dem K’akchiquel ins Spanische, dann die Übersetzung in die Gegenrichtung und wieder andersherum im Wechselspiel von Frage und Antwort. Die Übersetzung schaffte es nicht, das erinnerte Grauen zu mildern.
    »Wann sind Sie nach Hause zurückgekehrt, Señora Ch’i’p?«
    » A que hora regreso usted a su casa, Señora Ch’i’p? «
    » Chike ramaj xatzalij pa awachoch, Ixoq Ch’i’p? «
    »Am späten Nachmittag. Ich hatte meine Bohnen verkauft.«
    »Das Haus brannte?«
    »Ja.«
    »Ihre Familie war drinnen?«
    Ein Nicken.
    Ich betrachtete die Beteiligten. Eine uralte Maya-Frau, ihr Sohn mittleren Alters und die junge Kulturanthropologin Maria Paiz, jetzt gezwungen, unaussprechliche Erinnerungen auszugraben. Ich spürte Wut und Trauer in mir zusammenprallen wie die Gewitterwolken, die sich am Horizont auftürmten.
    »Was haben Sie getan?«
    »Wir haben sie im Brunnen begraben. In aller Eile, bevor die Soldaten zurückkamen.«
    Ich musterte die alte Frau. Ihr Gesicht war wie brauner Kord. Ihre Hände waren schwielig, der lange Kopf mehr grau als schwarz. Um ihren Kopf war ein Tuch geknotet, leuchtende Rot-, Pink-, Gelb- und Blautöne, verwebt zu Mustern, die älter waren als die Berge, die uns umgaben. Ein Zipfel hob und senkte sich im Wind.
    Die Frau lächelte nicht. Sie runzelte auch nicht die Stirn. Und sie schaute niemanden an, was mich sehr erleichterte. Hätten sich unsere Blicke auch nur kurz getroffen, wäre die Übermittlung von Schmerz wohl grausam gewesen.
    Vielleicht wusste sie das und wandte den Blick ab, um nicht andere in die Hölle hinabzuziehen, die diese Augen verbargen.
    Es konnte natürlich auch Misstrauen sein. Vielleicht war sie nach dem, was sie erlebt hatte, nicht mehr bereit, Fremden offen in die Augen zu sehen.
    Da ich einen leichten Schwindel verspürte, drehte ich einen Eimer um, setzte mich darauf und betrachtete die Umgebung.
    Ich befand mich auf zweitausend Meter Höhe im westlichen Hochland Guatemalas, am Grund einer Schlucht mit steilen Flanken. Ungefähr einhundertfünfundzwanzig Kilometer nordwestlich von Guatemala City.
    Um mich herum floss ein breiter Strom aus üppig grünem Wald, durchsetzt von kleinen Feldern und Gemüsegärten, wie Inseln. Hier und dort war das riesige Schachbrett von künstlich angelegten Terrassen durchbrochen, die sich spielerisch wie Wasserfälle in die Tiefe stürzten. Dunst umwaberte die höchsten Gipfel und ließ ihre Umrisse verschwimmen wie auf einem Bild von Monet.
    Landschaften von solcher Schönheit hatte ich nur selten gesehen. Die Great Smoky Mountains. Den Gatineau in Quebec im Nordlicht. Die Barrier Islands vor der Küste Carolinas. Der Vulkan Haleakula bei Sonnenaufgang. Der Liebreiz der Umgebung machte die vor mir liegende Arbeit umso herzzerreißender.
    Als forensische Anthropologin ist es meine Aufgabe, Tote auszugraben und zu untersuchen. Ich identifiziere die Verbrannten, die Mumifizierten, die Verwesten und die Skelettierten, die ansonsten in anonymen Gräbern landen würden. Manchmal sind die Ergebnisse nur sehr allgemein, kaukasoide Frau, Mitte zwanzig. Bei anderen Gelegenheiten kann ich ein Opfer genau identifizieren. In einigen Fällen finde ich heraus, wie die Leute starben. Oder wie ihre Leichen verstümmelt wurden.
    Ich bin also durchaus gewöhnt an den Tod und das, was nach ihm kommt. Ich bin vertraut mit seinem Geruch, seinem Anblick, mit seiner Bedeutung. Ich habe gelernt, mich emotional zu stählen, damit ich meinen Beruf ausüben kann.
    Aber diese alte Frau durchbrach meinen Schutzwall, meine Distanziertheit.
    Noch ein Schwindelanfall. Das liegt an der Höhe, sagte ich mir, senkte den Kopf und atmete tief durch.
    Obwohl meine eigentlichen Wirkungsstätten North Carolina und Quebec sind, für deren Behörden ich als forensische Anthropologin tätig bin, war ich als Freiwillige nach Guatemala gekommen, um einen Monat lang als Beraterin für die Fundación de Antropología Forense de Guatemala zu arbeiten. Die Guatemaltekische Stiftung für Forensische Anthropologie, FAFG, arbeitete daran, die Überreste all jener zu
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