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Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Titel: Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
Autoren: Anna Kendall
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aber nicht auf dieselbe Art und Weise. Es ist unser verfestigter Schatten. Wie ein Schatten wird es kleiner und größer, aber durch einen unsichtbaren Einfluss, der nicht die Sonne ist. Hier gibt es keine Sonne.
    Es gibt Licht, ein gleichmäßiges, gedämpftes Glühen, wie an einem verhangenen Tag. Der Himmel ist stets von einem dunklen, nichtssagenden Grau. In diesem kühlen Licht sah ich den Fluss, die Weide, den sumpfigen Tümpel, in dem ein Frosch geplanscht hatte. Aber hier gab es natürlich keinen Frosch, und auch meine Schafe nicht. Nichts lebt hier; es gibt nur die Toten.
    Ein paar von ihnen saßen oder lagen auf der Wiese herum. Sie bewegten sich niemals weit von dem Ort weg, an dem sie gestorben sind. Sie taten das, was die Toten tun: nichts. Sie sitzen– tagelang, jahrelang, vielleicht jahrhundertelang–, starren in die Leere, und ein jedes ihrer Gesichter ist völlig reglos, eine geistlose Ruhe, die sich niemals ändert. Nur die Alten lassen sich überhaupt aufrütteln, und auch nur kurz, ehe sie wieder zurück in ihren Dämmerzustand fallen.
    Entrückt, so wie auch mein Körper jetzt aussehen musste, der im Land der Lebenden zurückgeblieben war, ehe ich wiederkehrte, um ihm abermals Leben einzuhauchen.
    Ich war am Fluss entlang weitergegangen, wo sich im Land der Lebenden der Friedhof der Smallings befand. Ich wusste, dass ich den richtigen Ort erreicht hatte, nicht nur weil ich ihn an einer großen, alten Eiche erkannte, sondern wegen der größeren Anzahl der Toten. Hier hatte man seit langer Zeit Leute begraben. Der Begräbnishain hatte sich ausgedehnt, um ihnen allen Platz zu bieten, war beinahe zur Größe eines ansehnlichen kleinen Waldes angewachsen. Einige der Toten saßen in Kreisen, wie sie es oft tun; ich wusste nicht, weshalb. Ich trat unter die Bäume und musterte Gesichter und Kleidung.
    Die Köchin von Lord Carush Spenlow war nicht schwer zu finden. Jemand hatte den Körper mit dem gleichen braunen Kleid und der bestickten Kappe ausgestattet, wie sie Lady Joannas Amme gehabt hatte, und so hatten ihn die Smallings auch begraben. Nun saß sie da und betrachtete eine Blume. Ihr altes, faltiges Gesicht wirkte ruhig, ohne Brandnarben; die Toten bringen ihre Verletzungen oder Krankheiten nicht mit. Irgendwo saß, genauso geistlos, meine Mutter im Land der Toten. Einst hatte ich sie unbedingt finden wollen, aber das war gewesen, ehe ich für jede Handlung und jeden Atemzug in Maggies Schuld stand.
    »Gevatterin«, sagte ich zu der Köchin. Sie regte sich nicht. Aber es sind die alten Frauen, die sich am ehesten mit mir unterhalten wollen, wenn ich nur hartnäckig genug darauf bestehe. Ich kniete mich neben sie ins Gras, packte sie an der Schulter und schüttelte sie. »Gevatterin Köchin!«
    Langsam richteten sich die alten Augen auf mich, dann kehrte mit einem plötzlichen Ruck wieder Bewusstsein in sie zurück. »Was brauchen wir? Schon wieder Rosmarinbrot? Ich habe ihnen doch gesagt… Oh!«
    Ich erkannte, wie alles auf einmal sie einholte. Aber es machte ihr keine Angst; das tat es selten.
    »Dann bin ich also tot?«
    »Ja, Gevatterin.«
    »Das Brot…« Sie blinzelte einmal, dann begann sie, mir zu entgleiten. Die Toten sind nicht sonderlich an ihrem vergangenen Leben interessiert, nicht mehr, wenn sie erst einmal jener Dämmerzustand erfasst hat. Das ist es, was ihre lieben Hinterbliebenen nicht verstehen, nicht verstehen können. Um überhaupt mit den Toten ins Gespräch zu kommen, muss man entweder mit ihnen über ihre Kindheit sprechen, auf die sie sich eher besinnen zu können scheinen, oder sonst sehr schnell mit seinen Fragen sein. Ich war schnell.
    »Gevatterin, wartet! Die Armee der Wilden…«
    »Schüttle mich nicht mehr, junger Mann! Lass mich zufrieden!«
    »Es tut mir leid. Aber die Armee der Wilden, die Lord Carushs Anwesen niedergebrannt hat…«
    »Lord Carush«, sagte sie versuchsweise, als würde ihre Zunge eine seltsame Sprache ausprobieren.
    »Ja, das Anwesen. Das Feuer. Die Soldaten der Wilden haben jemanden gesucht, und sie haben die Bediensteten deswegen ausgefragt. Wen haben sie gesucht?«
    Sie glitt zurück in den Dämmerzustand. Ich schüttelte ihre Schultern so fest, dass ihr Kopf auf und ab hüpfte und die bestickte Kappe ihr seitlich übers graue Haar rutschte. Die Toten kann man nicht verletzen, aber man kann sie ärgern. »Lass mich zufrieden!«
    »Ich höre auf, sobald Ihr mir sagt, wen die Soldaten der Wilden gesucht haben. Wen?«
    Sie runzelte
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