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Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Titel: Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
Autoren: Anna Kendall
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1
    Am ehesten sind es die alten Frauen, die sich mit mir unterhalten wollen.
    Keineswegs alle, und nicht nur sie. Manchmal lässt sich auch ein alter Mann in ein Gespräch verwickeln, vor allem wenn ich über ihn gestolpert bin. Hin und wieder sogar ein Schwachkopf, der keine Ahnung hat, wo er sich befindet. Und zweimal habe ich mich mit Königinnen unterhalten. Aber im Allgemeinen waren es im Land der Toten die alten Frauen, die aus ihrem unheimlichen Dämmerzustand zurückkehrten und über das Leben schwatzten, das sie verloren hatten, irgendwann vor langer Zeit. Aber im Augenblick befand ich mich nicht im Land der Toten. Ich träumte nur, ich wäre dort, und der Traum war sogar noch schrecklicher als einst die Wirklichkeit.
    Ein flaches Hochlandmoor mit einem runden Steinhaus. In meinem Mund der Geschmack nach gebratenem Fleisch, saftig und fettig. In den Schatten jenseits meiner Fackel spüre ich Dinge, die man nicht sehen kann. Unmenschliche Dinge, Dinge, denen ich in diesem Land und jenem anderen jenseits des Grabes niemals begegnet bin. Sie regen sich …
    »Peter…«
    … unter ihnen ist die Gestalt einer Frau, und die Stimme, die aus dem Dunkel zu mir dringt, ist eine Frauenstimme, und ich kann das Glitzern einer juwelenbesetzten Krone erkennen. Die Frau ruft meinen Namen.
    »Aber …«
    »Peter! Wach auf!«
    »… du bist tot«, sage ich.
    »Tot seit elf Jahren«, sagt sie und lässt ein Lachen erklingen, bei dem mir die Knochen schaudern. Und …
    »Peter! Sofort!«
    Ich schlug blind um mich, ganz verrückt vor Furcht vor diesem monströsen Lachen. Meine Faust traf einen Körper. Jemand schrie auf. Ich erwachte ganz, und Jee lag ausgestreckt an der Wand des Verschlags für die Schafe; mit der kleinen Hand tastete er nach dem roten Mal auf seiner Wange.
    »Jee! Es tut mir so leid! Oh, Jee, ich wollte dich nicht…«
    Er starrte mich vorwurfsvoll an, ohne etwas zu sagen. Das Licht des frühen Morgens drang durch die Tür herein, die er geöffnet hatte. Die Tiere– zwei Mutterschafe und drei Lämmer– starrten mich von ihrem Lager aus Stroh an.
    »Jee…« Aber was hätte ich sagen können? Ich hatte mich bereits entschuldigt, und es änderte nichts. Den Schlag konnte man nicht ungeschehen machen– wie so vieles andere in meinem Leben.
    »Tot seit elf Jahren.«
    Ich nahm Jee in die Arme, und er wehrte sich nicht. Unter den Fingern meiner Linken fühlten sich seine Knochen so klein an. Sollte ein Zehnjähriger nicht größer sein? Ich wusste es nicht, weil ich so wenig Erfahrung mit Kindern hatte. Die Kinder aus dem Dorf gingen mir aus dem Weg; vielleicht hatten sie Angst vor dem Stumpf, wo früher meine andere Hand gewesen war. »Peter Einhand« nannten sie mich, ohne zu wissen, wie ich die andere verloren hatte, oder dass mein Name nicht Peter war.
    Manchmal glaube ich, dass sogar Maggie die Vergangenheit vergisst. Aber ich vergesse nie.
    Jee befreite sich aus meiner ungelenken Umarmung. »Maggie sagt, dass du fürs Abendessen ein Lamm schlachten musst. Das fetteste.«
    Ich blinzelte. »Sind Reisende gekommen?«
    »Ja. Mit ihren Dienern. Komm!«
    Reisende mit Dienern. Unser rustikales Gasthaus, über dem Dorf Apfelbrück im Vorgebirge der Westlichen Berge, bekam selten Reisende zu sehen, und niemals Reisende mit Dienern. Sie mussten sehr früh am Morgen eingetroffen sein. Ich hatte im Verschlag für die Schafe geschlafen, weil vor zwei Tagen ein Wolf Samuel Browns einziges Lamm davongeschleppt und es gleich innerhalb der Einfriedung seiner Hütte getötet hatte. Maggie hatte darauf bestanden, dass ich einen festen Unterstand errichtete, und ich hatte mich entschlossen, darin zu schlafen. »Das ist nicht nötig; der Stall ist rundum geschlossen und hat kein Fenster«, hatte Maggie mit verkniffenen Lippen gesagt. Ich hatte nicht geantwortet. Wir wussten beide, dass ich lieber hier draußen schlief, aber keiner von uns ertrug es, sich damit auseinanderzusetzen.
    Ich erhob mich aus dem Stroh, wischte mir die Reste von Hemd und Hose und zog meine Stiefel an.
    Maggie und ich führten dieses Gasthaus seit zwei Jahren. Es ist allein ihr Verdienst, dass wir– zwei siebzehnjährige Flüchtlinge und Jee– ein Auskommen hatten. Es war Maggie, die mit unseren letzten Münzen die Pacht für eine zusammenfallende Hütte in Apfelbrück ausgehandelt hatte. Maggie, die gehämmert, genagelt und geschrubbt und mich unnachgiebig angehalten hatte, das Gleiche zu tun, bis die Hütte einen Schankraum, eine brauchbare Küche
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