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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter
Autoren: Delphine de Vigan
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Fotoserien in
Marie-Claire
und
Mon Tricot
bezahlt worden, in denen Lucile der Star gewesen war. Auch ihre Geschwister machten hin und wieder Werbefotos, doch Lucile war von allen die Gefragteste. Lucile mochte das Fotografiertwerden. Einige Monate zuvor waren an den Metrowänden riesige Fotos zu sehen gewesen: ihr Gesicht in Großaufnahme, aus der Stirn gekämmtes Haar, roter Pulli, hochgereckter Daumen und dazu der Slogan: »Intexa ist klasse!« Gleichzeitig waren an alle Kinder ihrer Klasse und alle Schulen in Paris Löschblätter verteilt worden, auf denen Luciles Gesicht zu sehen war.
    Lucile liebte das Fotografiertwerden, doch was sie mehr als alles andere liebte, war die Zeit mit ihrer Mutter. Die Hin- und Rückfahrt mit der Metro, das Warten zwischen den Aufnahmen, das Schoko-Croissant, das sie danach in der ersten Bäckerei am Wege kauften – diese gestohlene Zeit, die nur ihr gewidmet war und in der keines der anderen Kinder Anspruch auf Lianes Hand erheben konnte. Lucile wusste, dass es diese Momente nicht mehr lange geben würde, denn Liane meinte, nach den nächsten Sommerferien sei Lisbeth alt genug, um Lucile zu den Terminen zu begleiten, oder Lucile könne dann sogar allein gehen.
     
    Lucile hatte das erste Kleidungsstück angezogen, ein tailliertes Kleid mit schmalen weißen und blauen Streifen, unter dessen Saum ein mehrere Zentimeter breiter weißer Volant hervorlugte. Wenn sie sich drehte, öffnete sich das Kleid wie eine Blume und ließ ihre Knie sehen. Die Friseuse hatte ihr das Haar sorgfältig gekämmt und seitlich mit einer großen herzförmigen Spange zusammengenommen. Lucile betrachtete die schwarzen Lacksandalen, die sie gerade angezogen hatte, sie strahlten in vollkommenem kratzerlosem Glanz, Sandalen, wie sie sie selbst gern hätte und um die ihre Schwestern sie heiß beneiden würden. Mit ein wenig Glück würde sie sie behalten dürfen. Für das erste Foto sollte Lucile sitzen und einen kleinen Vogelkäfig auf dem Schoß halten. Nachdem sich Lucile in Pose gesetzt hatte, breitete die Assistentin den Volant rings um sie aus. Lucile konnte den Blick nicht vom Käfiginsassen lösen.
    »Wie lange ist er schon tot?«, fragte sie.
    Der Fotograf, der mit seinen Einstellungen beschäftigt war, schien sie nicht gehört zu haben. Lucile sah sich um, sie war entschlossen, den Blick eines Menschen aufzufangen, der ihr Auskunft geben konnte. Ein etwa zwanzig Jahre alter Praktikant trat auf sie zu.
    »Sicher schon sehr lange.«
    »Wie lange?«
    »Ich weiß nicht, vielleicht ein, zwei Jahre …«
    »Ist er in dieser Haltung gestorben?«
    »Nein, nicht unbedingt. Der Mann, der sich darum kümmert, überlegt sich auch die Pose für ihn.«
    »Der Mann, der ihn ausstopft?«
    »Ja, genau.«
    »Was tut er rein?«
    »Stroh, glaube ich, und wahrscheinlich auch noch andere Sachen.«
     
    Der Fotograf bat um Stille, er wollte anfangen. Doch Lucile betrachtete den Vogel immer noch, jetzt von unten, sie suchte nach einer Öffnung.
    »Wie bekommt man die Sachen rein?«
     
    Liane befahl Lucile, still zu sein.
    Den Anweisungen der Stylistin entsprechend zog Lucile anschließend einen Skianzug aus Wollstrick an (sie posierte mit Skistöcken vor einem hellen Hintergrund aus dickem Papier), einen Tennisdress, dessen weißes Faltenröckchen jede ihrer Freundinnen in Entzücken versetzt hätte, und schließlich einen Badeanzug, der aus einem Oberteil, einem hochgeschnittenen Höschen und einer Badekappe aus dickem Plastik bestand, die Lucile albern fand. Doch Luciles Schönheit war durch nichts zu beeinträchtigen. Wo immer sie war, zog Lucile Blicke und Bewunderung auf sich. Man rühmte ihre ebenmäßigen Züge, ihre langen Wimpern, ihre Augen, die zwischen Grün und Blau changierten und dazwischen jede metallische Nuance widerspiegeln konnten, ihr schüchternes oder ungezwungenes Lächeln und ihr ach so helles Haar. Diese Aufmerksamkeit war Lucile lange unangenehm gewesen, wie irgendetwas Klebriges an ihrem Körper, doch mit sieben Jahren zog Lucile die Mauern eines Refugiums um sich, eines Territoriums, das nur ihr gehörte und in das weder der Lärm noch die Blicke der anderen drangen.
     
    Die Aufnahmen liefen in konzentriertem Schweigen ab, nur unterbrochen von der Veränderung der Kulisse und der Beleuchtung. Lucile ging vom Umkleideraum auf das Podest und vom Podest in den Umkleideraum, sie nahm eine bestimmte Haltung ein, ahmte eine Bewegung nach, wiederholte dieselben Gesten zehn-, zwanzigmal ohne das
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