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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter
Autoren: Delphine de Vigan
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ihnen vorüber, und Lisbeth und Lucile beobachteten das Ritual: die Hände, die geschüttelt oder auf die Schulter gelegt wurden, die Umarmungen, die unterdrückten Schluchzer, das Flüstern ins Ohr, tröstende oder ermutigende Worte, von denen sie nur Zischen oder mitfühlendes Schnaufen mitbekamen, und das zehn-, zwanzigmal. Bald hörten sie nur noch das und sahen sich dabei jedes Mal an, so dass langsam und nicht zu unterdrücken ein Lachanfall in ihnen aufstieg. Georges schickte sie weg, damit sie sich anderswo beruhigen konnten.
     
    Antonin war jetzt ein Engel und sah ihnen zu. Lucile stellte sich vor, wie sein kleiner Körper mit ausgebreiteten Armen schwerelos in der Luft hing.
    Einige Tage lang glaubte sie noch, er werde zurückkehren und sie würden gemeinsam oberhalb des Dorfes Ziegen hüten, die Kaninchenjungen bei Madame Lethac anschauen oder am ausgetrockneten Flussbett entlanggehen, um nach Tonerde zu suchen.
     
    Am Monatsende fuhr eine Freundin der Familie in den Süden und holte Barthélémy ab. Als Barthélémy aus der Ferienkolonie zurückkam, war sein Bruder tot und begraben. Drei Tage lang weinte er und war durch nichts zu beruhigen. Er weinte sehr laut und bis zur Erschöpfung.
    Von da an würde Antonins Tod nur noch eine unterirdische, seismische Welle sein, die lautlos immer weiterwirken würde.

[home]
    L ucile und Lisbeth spähten vorgebeugt durch das Fenster des rosa Mädchenzimmers und stellten sich jedes Mal auf die Zehenspitzen, wenn sie es an der Hauseingangstür schnarren hörten. Trotz der Kälte war es Lucile warm. Erstickend warm sogar. Als sie aus der Schule gekommen war, hatte Liane sich sogar gefragt, ob ihre Tochter nicht vielleicht Fieber habe. Doch gerade, als sie nach dem Thermometer suchen wollte, fing das Baby an zu weinen.
    Einige Wochen zuvor war ein kleines Mädchen namens Violette aus Lianes Bauch gekommen, rund und schön wie ein Schwimmer, das laut lachte, wenn man es kitzelte. Anfangs war Lucile enttäuscht gewesen, das Baby sah aus wie alle anderen auch. Doch Violettes Lächeln, ihr Interesse an ihren älteren Geschwistern (sobald eines von ihnen das Zimmer betrat, ruderte sie mit den Armen) und ihr feines Haar, in das Lucile gern blies, damit es um ihren Kopf wehte, hatten die Enttäuschung schließlich überwunden. Violette war zwar nicht schwarz und auch nicht ausschließlich ihr überantwortet, aber wenigstens saß Liane, die mit dem Baby alle Hände voll zu tun hatte, nicht mehr stundenlang in der Küche und starrte ins Leere. Violette verlangte Arme, Fläschchen und Aufmerksamkeit. Mit ihr waren der süßliche Geruch des Puders und der säuerlichere der Wundcreme für den Po zurückgekehrt. Dennoch war die Luft der Wohnung nach wie vor voller Bitterkeit, wie von ihr gesättigt. Wenn Georges abends nach Hause kam, setzte er sich manchmal wortlos hin, erschöpft und mit starren Zügen.
    Weder Lucile noch ihre Brüder und Schwestern hatten ihre Eltern weinen sehen.
     
    Lucile stieß die Luft aus und sah zu, wie die Scheibe von ihrem Atem beschlug. Im Hof war alles ruhig. Lisbeth trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Hinter ihnen spielte Justine auf dem Bett mit einer alten Puppe, die sie zum zehnten Mal neu wickelte. Die Jungs hatten sich in ihr Zimmer verzogen, Barthélémy hatte einen abwartenden Rückzug befohlen und Milo ihm, wenn auch verdrossen und schmollend, aufs Wort gehorcht.
     
    Er würde ankommen. Jeden Augenblick. Man würde die Schritte im Treppenhaus hören, den Schlüssel im Schloss, und dann wäre er da, im Wohnzimmer, dann wäre er für das ganze Leben da. Wie er wohl aussah? Ob er Kleider und Schuhe hatte, oder ob er ganz nackt ging unter einem groben Gewand, wie es die Bettler trugen? Ob er Verstecken oder Fangen mit Versteinern spielen und sich mit den Knien kopfüber an eine Stange hängen konnte?
    Lisbeth hielt es nicht mehr aus und verließ das Schlafzimmer, um draußen Informationen zu sammeln. Sie kam mit leeren Händen zurück. Liane wusste auch nicht mehr, sie mussten warten. Ihr Vater holte ihn ab, es war nicht gleich um die Ecke, vielleicht gab es Staus.
    Er würde kommen. Jeden Augenblick. Ob er groß war, größer als Antonin, oder ganz im Gegenteil ganz klein und mager? Ob er Spinat mochte und Weißwurst? Ob er Narben am Körper oder im Gesicht hatte? Ob er eine Tasche oder einen Koffer hatte, oder ein Bündel an einem Stock, wie in Andersens Märchen?
    Es war wenig über ihn bekannt. Er hieß Jean-Marc, er war sieben
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