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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter
Autoren: Delphine de Vigan
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hätte.
     
    Eines Abends im selben Winter kamen mein Sohn und ich von einem Zahnarztbesuch zurück und gingen nebeneinander auf dem schmalen Bürgersteig der Rue de la Folie-Méricourt. Und da fragte er mich ohne jede Vorwarnung und ohne dass irgendetwas im vorangegangenen Gespräch ihn auf diese Frage hätte bringen können:
    »Großmutter … hat sie sich gewissermaßen umgebracht?«
     
    Noch heute verstört mich diese Frage, wenn ich daran denke, nicht des Inhalts, sondern der Form wegen, dieses
gewissermaßen
aus dem Mund eines Neunjährigen, eine Rücksichtnahme auf mich, eine Art, das Terrain zu sondieren, behutsam und auf Zehenspitzen. Doch vielleicht war es für ihn auch eine echte Frage: War Luciles Tod in Anbetracht der Umstände als Suizid zu betrachten?
    An dem Tag, als ich meine Mutter in ihrer Wohnung fand, konnte ich meine Kinder nicht abholen. Sie blieben bei ihrem Vater. Am nächsten Tag teilte ich ihnen den Tod ihrer Großmutter mit, ich glaube, ich sagte etwas wie: »Großmutter ist tot«, und, als Antwort auf ihre Fragen: »Sie hat beschlossen einzuschlafen.« (Dabei habe ich doch Françoise Dolto gelesen.) Einige Wochen darauf rief mich mein Sohn zur Ordnung: Man musste die Dinge beim Namen nennen. Großmutter hatte sich umgebracht, ja, sie war freiwillig hopsgegangen, sie hatte bewusst den Löffel abgegeben, den Bankrott erklärt, sie hatte gesagt: Stopp, aus, basta, terminado, und sie hatte gute Gründe, so weit gegangen zu sein.
     
    Ich weiß nicht mehr, wann mir der Gedanke kam,
über
meine Mutter zu schreiben,
um sie herum
oder
von ihr aus,
doch ich weiß, wie sehr ich den Gedanken ablehnte, ihn möglichst lange auf Abstand hielt und mir dabei die Liste der unzähligen Autoren vor Augen führte, die im Laufe der Jahrhunderte bis in die jüngste Gegenwart über ihre Mutter geschrieben hatten, um mir zu beweisen, wie vermint das Gelände war und wie abgegriffen das Thema. Ich verscheuchte die Sätze, die am frühen Morgen oder am Rande einer Erinnerung aufstiegen, lauter Anfänge von allen möglichen Romanen unterschiedlichster Form, deren erstes Wort ich nicht hören wollte, ich stellte die Liste der Hindernisse auf, die sich mir ganz sicher in den Weg stellen würden, und die der unwägbaren Gefahren, die ich einging, wenn ich eine solche Baustelle aufmachte.
    Meine Mutter war ein zu weites, zu dunkles, zu verzweifeltes Feld: Kurzum, es war zu halsbrecherisch.
    Ich überließ es meiner Schwester, Luciles Briefe, Papiere und Texte zu holen und sie in einen besonderen Koffer zu packen, den sie bald in ihren Keller bringen würde.
    Ich hatte weder den nötigen Platz noch die nötige Kraft.
     
    Und dann lernte ich, an Lucile zu denken, ohne dass mir der Atem stockte: an die Art, wie sie ging, den Oberkörper nach vorn geneigt und die Umhängetasche an die Hüfte gepresst, wie sie die Zigarette fest eingeklemmt zwischen den Fingern hielt, wie sie mit gesenktem Kopf in die Metro drängte, an das Zittern ihrer Hände, an ihren präzisen Wortgebrauch, an ihr kurzes Lachen, über das sie selbst überrascht zu sein schien, an die Veränderungen ihrer Stimme durch ein Gefühl, von dem auf ihrem Gesicht manchmal keine Spur zu entdecken war.
    Ich dachte, dass ich nichts vergessen durfte von ihrem trockenen, eigenwilligen Humor und ihrem einzigartigen Einfallsreichtum.
    Ich dachte daran, dass Lucile sich nacheinander verliebte in Marcello Mastroianni (»Davon bitte ein halbes Dutzend«, pflegte sie zu präzisieren), Joshka Schidlow (einen Theaterkritiker von
Télérama,
den sie zwar nie gesehen hatte, dessen Schreibstil und Intelligenz sie jedoch rühmte), einen Geschäftsmann mit dem Vornamen Édouard, dessen wahre Identität wir nie herausfinden konnten, und in Graham, einen echten Clochard des 14 . Arrondissements, Geiger, wenn ihm danach war, und schließlich Mordopfer. Ich spreche nicht von den Männern, die ihr Leben
wirklich
geteilt haben. Ich dachte daran, dass meine Mutter eines Abends in einer entlegenen Vorstadt gemeinsam mit Claude Monet und Immanuel Kant einen Hühnertopf gegessen hatte, danach mit dem Vorortzug heimgefahren war und jahrelang keine Schecks mehr ausstellen durfte, weil sie ihr Geld auf der Straße verteilt hatte. Ich dachte daran, dass meine Mutter das Informatiksystem ihrer Firma sowie die gesamten Pariser Verkehrsbetriebe kontrolliert und auf Kneipentischen getanzt hat.
    Ich weiß nicht mehr, wann genau ich kapitulierte, vielleicht an dem Tag, an dem ich verstand, wie
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