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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter
Autoren: Delphine de Vigan
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geringste Zeichen von Ermüdung oder Ungeduld. Lucile war brav, vorbildlich brav.
    Als der Fototermin beendet war und sie sich umzog, bot die Stylistin Liane eine für den Herbst geplante neue Fotoserie für
Jardin des Modes
an. Liane nahm an.
    »Und der Kleine, der einmal mit Lucile mitgekommen ist und ein wenig jünger ist als sie?«
    »Antonin? Er ist gerade sechs geworden.«
    »Er ist ihr sehr ähnlich, oder?«
    »Ja, das wird oft behauptet.«
    »Dann bringen Sie ihn bitte mit, wir machen eine Serie mit den beiden.«
     
    In der Metro nahm Lucile die Hand ihrer Mutter und ließ sie während der ganzen Fahrt nicht los.
     
    Als sie ins Zimmer traten, war der Tisch schon gedeckt. Luciles Vater, Georges, war gerade nach Hause gekommen und las die Zeitung. Die Kinder erschienen auf einen Schlag, Lisbeth, Barthélémy, Antonin, Milo und Justine, alle im gleichen Frotteeschlafanzug, den Liane zu Beginn des Winters im Sonderangebot und in sechsfacher Ausführung erstanden hatte, und in den gleichen Luxuspantoffeln mit dreifach gepolsterter Sohle, die ihnen Doktor Baramian geschenkt hatte. Einige Monate zuvor hatte Doktor Baramian, völlig erschöpft von dem Lärm, der während seiner Sprechstunden aus dem Stockwerk über ihm drang, und im festen Glauben, Lianes und Georges’ Kinder trügen zu Hause Holzschuhe, seine Sekretärin hinaufgeschickt, um sich nach den Schuhgrößen zu erkundigen. Dann ließ er jedem Einzelnen umgehend ein Paar Pantoffeln zukommen. Dabei hatte sich ungeachtet der allgemeinen Aufregung erwiesen, dass Milo, der sich äußerst behende auf seinem Nachttopf fortbewegte – Topf, Beinchen, Topf, Beinchen –, der Lauteste von allen war. Liane war von der Freundlichkeit des Arztes so gerührt, dass sie ihren Sohn zu entschärfen versuchte, indem sie ihn mitsamt seinem Töpfchen auf eine Kommode setzte. Milo brach sich das Schlüsselbein, und der Radau ging weiter.
     
    Liane schickte Lucile unter die Dusche, während die anderen sich an den Tisch setzten.
    Neuerdings verzichtete Liane darauf, ihre Kinder vor dem Abendessen beten zu lassen. Barthélémys dumme Witze – er wiederholte das Gebet seiner Mutter mit einer Stimme aus dem Off, die jeden Abend mit einem »Gegrüßet scheißt du, Maria« begann und allgemeine Heiterkeit auslöste – hatten den Sieg über ihre Geduld davongetragen.
     
    Sie waren gerade mit der Suppe fertig, als Lucile barfuß und mit feuchtem Haar an den Tisch kam.
    »Na, meine Schöne, du hast dich also fotografieren lassen?«
    Georges sah seine Tochter mit einem Blick an, in dem etwas wie Staunen lag. Lucile hatte etwas Dunkles, das ihm selbst glich. Schon seit frühester Kindheit weckte Lucile seine Neugier. Ihre Art, sich abzusondern, sich zurückzuziehen, mit Worten zu geizen, nur halb auf dem Stuhl zu sitzen, als erwarte sie noch jemanden, diese Art, wie er manchmal dachte, sich nichts zu vergeben. Doch er wusste, dass Lucile nichts entging, kein Ton, kein Bild. Sie fing alles auf. Sog es in sich auf. Wie seine übrigen Kinder wollte auch Lucile ihm gefallen, lauerte sie auf sein Lächeln, seine Zustimmung, sein Lob. Wie die anderen wartete sie auf das Heimkommen des Vaters und erzählte ihm manchmal, wenn Liane sie dazu ermunterte, was sie am Tag erlebt hatte. Doch Lucile war stärker mit ihm verbunden als alle anderen.
    Und Georges, fasziniert, wie er war, konnte den Blick nicht von ihr wenden.
     
    Jahre später würde Liane von dieser Anziehung erzählen, die Lucile auf die Leute ausübte, von dieser Mischung aus Schönheit und Ferne, von ihrer Art, gedankenverloren den Blicken standzuhalten.
    Jahre später, als Lucile selbst schon gestorben war, lange bevor sie eine alte Dame hätte werden können, würde man in ihren Sachen die Werbebilder eines natürlichen, fröhlichen kleinen Mädchens finden.
    Jahre später, beim Ausräumen von Luciles Wohnung, würde man in einer Schublade einen ganzen Film mit Fotos vom Leichnam ihres Vaters finden, den sie selbst aus allen Winkeln fotografiert hatte, in seinem Anzug, der beige oder ocker war, in der Farbe von Erbrochenem.

[home]
    D ie Möglichkeit des Todes (oder vielmehr das Bewusstsein, dass der Tod jeden Augenblick eintreten kann) trat im Sommer 1954 in Luciles Leben, kurz bevor sie acht wurde. Von da an war die Vorstellung vom Tod ein Teil von Lucile, eine Bruchlinie oder vielmehr eine unauslöschliche Spur – wie die runde Uhr mit den dicken Stundenstrichen, die sie sich später auf das Handgelenk tätowieren
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