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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter
Autoren: Delphine de Vigan
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sehr das Schreiben, mein Schreiben, mit ihr verknüpft ist, mit ihren Fiktionen, ihren Momenten des Wahnsinns, in denen ihr das Leben so schwer geworden war, dass sie ihm entfliehen musste, in denen ihr Schmerz sich nur noch durch die Fabel ausdrücken konnte.
     
    Also bat ich ihre Geschwister, mir von ihr zu erzählen, über sie zu sprechen. Ich habe sie aufgenommen, sie und die anderen, die Lucile gekannt haben und diese vergnügte, vernichtete Familie, die wir bilden. Ich habe auf meinem Computer Stunden numerischer Worte gespeichert, Stunden, die schwer sind von Erinnerungen, Verstummen, Tränen und Seufzern, Lachen und vertraulichen Mitteilungen.
    Ich bat meine Schwester, die Briefe, die Texte, die Zeichnungen wieder aus ihrem Keller zu holen, ich suchte, wühlte, kratzte, grub und exhumierte. Ich verbrachte Stunden damit, zu lesen und noch einmal zu lesen, Filme und Fotos anzusehen, ich stellte immer wieder dieselben und noch viele andere Fragen.
     
    Und dann habe ich, wie Dutzende von Autoren vor mir, versucht, meine Mutter zu beschreiben.

[home]
    S eit mehr als einer Stunde beobachtete Lucile ihre Brüder, wie sie in einem immer wieder unterbrochenen Ballett, das zu verfolgen ihr schwerfiel, vom Boden auf den Stein, vom Stein auf den Baum und vom Baum auf den Boden sprangen. Jetzt versammelten sie sich um etwas, das sie für ein Insekt hielt, aber nicht sehen konnte, und gleich kamen auch die Schwestern angerannt und versuchten aufgeregt, sich in die Mitte der Gruppe zu drängen. Beim Anblick des Tierchens kreischten die Mädchen,
als schnitte man ihnen die Kehle durch,
dachte Lucile, so schrill kreischten sie, vor allem Lisbeth, die aufgeregt herumhopste, während Justine Lucile mit ihrer durchdringendsten Stimme zurief, sie solle sofort gucken kommen. Lucile, die Beine so übereinandergeschlagen, dass ihr Kleid aus hellem Seidenkrepp nicht verknittern konnte, und die Söckchen tadellos glatt über die Knöchel gezogen, war absolut nicht geneigt, sich von der Stelle zu bewegen. Von ihrer Bank aus verfolgte sie jede Sekunde der Szene, die sich vor ihr abspielte, doch um nichts in der Welt hätte sie den Abstand zwischen sich und ihren Geschwistern verringert, zu denen sich inzwischen, von den Schreien angelockt, weitere Kinder gesellt hatten. Jeden Donnerstag schickte ihre Mutter Liane ihre gesamte Brut, ohne jede Ausnahme, in den kleinen Park, wo die Älteren die Jüngeren beaufsichtigen sollten, und zwar mit der strikten Anweisung, dort mindestens zwei Stunden zu bleiben. Die Geschwisterschar verließ also unter großem Getöse die Wohnung in der Rue de Maubeuge, lief die fünf Treppen hinab, überquerte erst die Rue Lamartine, dann die Rue de Rochechouart, um schließlich triumphierend und unter allgemeinem Aufsehen die kleine Grünfläche zu betreten. Es war unmöglich, diese im Alter jeweils nur wenige Monate voneinander entfernten Kinder nicht zu bemerken, ihr ins Weißliche spielendes Blond, ihre hellen Augen und ihre lärmenden Spiele. Unterdessen legte sich Liane auf das nächstbeste Bett und fiel für zwei Stunden in bleiernen Schlaf, um sich von der langen Reihe der Schwangerschaften zu erholen, von den Geburten, dem Stillen, den von Weinen und Alpträumen zerhackten Nächten, den Waschtrögen und vollen Windeln und von den unerbittlich wiederkehrenden Mahlzeiten.
    Lucile setzte sich immer auf dieselbe Bank, die ein wenig abseits, doch immer noch in strategisch günstiger Nähe zu den Schaukeln und Trapezen stand und einen idealen Gesamtüberblick bot. Manchmal war sie bereit, mit den anderen zu spielen, manchmal blieb sie auf dieser Bank,
um im Kopf zu sortieren,
wie sie sagte, aber sie sagte nie, was genau, und zeigte nur manchmal vage in die Umgebung. Lucile
sortierte
das Geschrei, das Lachen, das Weinen, das Kommen und Gehen, den ständigen Lärm und die ständige Bewegung, in der sie lebte. Wie auch immer, Liane war wieder schwanger, bald wären sie zu siebt, danach wahrscheinlich zu acht oder zu noch mehr. Manchmal fragte sich Lucile, ob die Fruchtbarkeit ihrer Mutter eine Grenze hatte, ob sich ihr Bauch immer weiter so füllen und leeren und rosige, glatthäutige Babys produzieren konnte, die Liane mit ihrem Lachen und ihren Küssen überschüttete. Doch vielleicht unterlagen Frauen einer bestimmten Höchstkinderzahl, die Liane bald erreicht haben würde, so dass ihr Körper schließlich nicht mehr besetzt wäre. Mit in der Luft hängenden Füßen saß Lucile exakt mitten auf der Bank und
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