Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter
Autoren: Delphine de Vigan
Vom Netzwerk:
ließ.
     
    Ende Juli waren Liane und die Kinder nach L. gefahren, in ein Dorf im Ardèche, wo Georges’ Eltern lebten. Dorthin waren auch einige Vettern und Kusinen gekommen, nur Barthélémy fehlte, er war in den Wochen vor den Ferien so wild gewesen, dass seine Eltern beschlossen hatten, ihn in eine Ferienkolonie zu schicken. Liane war im siebten Monat schwanger. Lucile vermisste ihren Bruder, der seit je die Zeit mit seinem Wirbel, seinen Neckereien und seinen unberechenbaren Heldentaten gefüllt hatte. Barthélémy, dachte sie, konnte zwar sehr lästig sein, aber er sorgte für Unterhaltung.
    Sanft und erfüllt vergingen die Tage in der Augusthitze, die Kinder spielten im Garten, badeten im Auzon und formten Dinge aus dem Flussschlamm. Liane hatte Hilfe von ihren Schwiegereltern und konnte sich in dem großen Lehrerhaus mitten im Dorf ausruhen. Georges war in Paris geblieben, um zu arbeiten.
     
    Eines Nachmittags, als Lucile Klavier übte, war der Garten plötzlich voller Schreie. Es war nicht das Geschrei des Spielens oder Zankens, das sie schon gar nicht mehr hörte, nein, es waren schrillere Schreie, Schreie des Entsetzens, die sie nicht kannte. Lucile stockte, die Hände über den Tasten, und horchte auf die Worte, konnte sie jedoch nicht verstehen, doch die dünne Stimme Milos – oder war es die eines anderen Kindes? – drang schließlich deutlich zu ihr: »Sie sind gefallen, sie sind gefallen!« Lucile fühlte ihr Herz im Bauch schlagen, dann in den Handflächen, sie wartete noch einige Augenblicke, bevor sie aufstand. Es war etwas passiert, das wusste sie, etwas, das nicht wiedergutzumachen war. Dann hörte sie Liane schreien und stürzte aus dem Haus. Die Kinder umringten den Brunnen, Justine klammerte sich an Lianes Rock, und Liane beugte sich über das dunkle Loch, dessen Grund sie nicht erkennen konnte, und brüllte den Vornamen ihres Sohnes.
     
    Antonin und sein Vetter Tommy hatten auf den Brettern gespielt, mit denen der Brunnen abgedeckt war, als diese plötzlich nachgegeben hatten. Vor den Augen der anderen Kinder waren die beiden Jungen hineingefallen. Tommy war sofort wieder aufgetaucht, man konnte ihn erkennen, mit ihm sprechen, das Wasser war eiskalt, doch er schien es auszuhalten. Antonin war nicht wieder an die Oberfläche gekommen. Bis die Feuerwehr kam, musste man Liane daran hindern, in den Brunnen zu springen, ihre Schwiegereltern hielten sie zu zweit fest. Nach einigen Minuten begann Tommy zu weinen, seine Stimme hatte einen seltsamen Hall, sie wirkte fern und nah zugleich, und Lucile dachte, er werde vielleicht von unten von einem Ungeheuer belauert, das an seinen Füßen nage und ihn gleich in die Tiefen des Nichts ziehen werde.
    Während der ganzen Zeit stand sie weiter hinten, einen Meter hinter ihrer Mutter, die mit einer Kraft kämpfte, die Lucile noch nie an ihr erlebt hatte. Zum ersten Mal sagte Lucile still ihre Gebete auf, alle, die sie kannte, das
Vaterunser
und das
Gegrüßet seist du, Maria,
ohne zu stocken und ohne jeden Fehler. Die Feuerwehrleute kamen mit ihrer Ausrüstung, die Kinder wurden zu den Nachbarn geschickt. Sie mussten lange nach Antonins Leiche suchen. Der Brunnen hatte einen Ausgang zu einer Zisterne. Antonin war im kalten Wasser bewusstlos geworden und ertrunken.
     
    Georges kam in aller Eile aus Paris. Antonin wurde in Weiß gekleidet und im Schlafzimmer des obersten Stocks aufgebahrt, Liane hatte den Kindern erklärt, Antonin sei zu einem Engel geworden. Er lebe jetzt im Himmel, weit oben, und könne sie sehen.
    Bei der Totenwache durften ihn nur die Ältesten sehen. Während der Gebete streichelte Lucile die pummeligen Hände des toten Jungen, sie waren kalt und geschmeidig, doch im Laufe der Stunden wurden Antonins Hände steif, und Lucile begann, an seiner baldigen Wiederauferstehung zu zweifeln. Sie betrachtete sein glattes Gesicht, die seitlich am Körper ausgestreckten Arme, den Mund, der leicht geöffnet war, als sei er gerade eingeschlafen und atme noch.
     
    Die Beerdigung fand einige Tage darauf statt. Lisbeth und Lucile trugen das gleiche Kleid (man hatte aus dem, was sich in den Koffern fand, etwas Passendes zusammengebastelt) und zeigten, eng aneinandergedrängt, den Ausdruck von Bedeutung, der ihnen als den Älteren zukam. Nachdem der Sarg ins Grab hinabgelassen worden war, standen sie kerzengerade neben den Eltern, während diese die Beileidsbekundungen entgegennahmen. Die Verwandten und Nachbarn zogen in ihren dunklen Kleidern an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher