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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter
Autoren: Delphine de Vigan
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dachte an das Baby, das im November zur Welt kommen sollte. Ein schwarzes Baby. Denn jeden Abend, bevor sie in dem Mädchenschlafzimmer, in dem schon drei Betten standen, einschlief, erträumte sich Lucile eine vollkommen und unabänderlich schwarze kleine Schwester, pummelig und glänzend wie eine Blutwurst, an die sich ihre Geschwister nicht heranwagen würden, eine kleine Schwester, deren Weinen niemand verstünde, die unablässig brüllen würde und die ihre Eltern schließlich ihr, Lucile, überlassen würden. Sie nähme das Baby dann unter ihre Fittiche und mit in ihr Bett, und obwohl sie doch Puppen hasste, wäre sie die Einzige, die mit dem Kind zurechtkäme. Das schwarze Baby würde Max heißen, wie der Mann von Madame Estoquet, ihrer Lehrerin, der Fernfahrer war. Das schwarze Baby würde ganz und gar ihr gehören, es würde ihr unter allen Umständen gehorchen und sie beschützen.
     
    Justines Geschrei riss Lucile aus ihren Gedanken. Milo hatte das Insekt angezündet, in weniger als einer Sekunde war es verbrannt. Justine, deren kleiner Körper von Schluchzen geschüttelt wurde, flüchtete sich zwischen Luciles Beine und legte ihr den Kopf in den Schoß. Während Lucile ihrer Schwester über das Haar streichelte, bemerkte sie den grünen Rotz, der in einem Faden auf ihr Kleid lief. Nicht heute. Mit einer energischen Bewegung hob sie Justines Kopf hoch und befahl ihr, sich die Nase zu putzen. Die Kleine wollte ihr die Leiche zeigen, und Lucile stand schließlich auf. Es waren nur noch ein wenig Asche und ein Stückchen verschrumpelter Panzer von dem Tier übrig. Lucile schob mit dem Fuß Sand darüber, dann hob sie das Bein an, spuckte sich in die Hand und rieb die Sandale sauber. Danach holte sie ein Taschentuch heraus, wischte Justines Tränen weg und putzte ihr noch einmal die Nase, um ihr Gesicht dann in beide Hände zu nehmen und sie lautstark zu küssen, so wie Liane immer küsste, die Lippen fest auf die Wangenrundung gedrückt.
    Justine, deren Windel sich gelöst hatte, lief zu den anderen zurück. Die hatten sich bereits in ein neues Spiel gestürzt und umstanden jetzt Barthélémy, der laut Anweisungen gab. Lucile setzte sich wieder auf ihre Bank. Sie sah, wie ihre Geschwister auseinanderliefen und dann zu einer dichten Traube zusammenkamen, um danach wieder auseinanderzurennen. Sie hatte das Gefühl, eine Krake oder eine Qualle zu beobachten, oder, bei genauerer Überlegung, ein schleimiges vielköpfiges Tier, das es nicht gab. An diesem vielgestaltigen Wesen, das sie nicht zu benennen wusste – obwohl sie sicher war, zu ihm zu gehören, wie jeder einzelne, selbst ein abgetrennter, Ring zu einem Wurm gehört –, war etwas, das sie ganz überdeckte, das sie unter sich begrub.
    Lucile war immer die Schweigsamste von allen gewesen. Und wenn Barthélémy oder Lisbeth an die Tür der Toilette klopften, in die sie sich geflüchtet hatte, um zu lesen oder um dem Lärm zu entkommen, befahl sie mit fester Stimme, die alles weitere Drängen unterband: Ruhe.
     
    Luciles Mutter tauchte am Eingang der Anlage auf; mit erhobenem Arm, leuchtend und schön stand sie auf dem Sandweg. Auf unerklärliche Weise fing Liane das Licht ein. Vielleicht lag es daran, dass ihr Haar so hell war und ihr Lächeln so strahlend. Vielleicht auch an ihrem Vertrauen zum Leben, ihrer Art, alles zu setzen, nichts zurückzuhalten. Die Kinder rannten auf sie zu, Milo warf sich ihr in die Arme und klammerte sich an ihre Kleider. Liane brach in Lachen aus, »Meine kleinen Könige«, sagte sie mehrmals mit ihrer singenden Stimme.
    Sie kam, um Lucile abzuholen und zum Fotostudio zu begleiten. Diese Ankündigung wurde mit Begeisterungs-, aber auch Protestschreien aufgenommen – dabei stand der Fototermin schon seit mehreren Tagen fest –, einem lauten Getöse, in dem es Liane jedoch gelang, Lucile für ihr sauber gebliebenes Kleid zu loben und ihrer ältesten Tochter noch einige Anweisungen zu geben. Lisbeth sollte die vier Kleinen baden, die Kartoffeln aufsetzen und den Vater erwarten.
     
    Lucile griff nach der Hand ihrer Mutter, und sie gingen Richtung Metro. Lucile war seit einigen Monaten Fotomodell. Sie hatte schon die Kollektionen von
Virginie
und von
L’Empereur
vorgeführt, zwei hochwertigen Kinderbekleidungs-Marken, und für mehrere Werbungen sowie die Modeseiten verschiedener Zeitungen posiert. Im Jahr vorher hatte Liane Lisbeth im Vertrauen gesagt, das Weihnachtsessen und sämtliche Geschenke seien aus dem Erlös der
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