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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart
Autoren: Richard Kaemmerlings
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unter den Füßen, nicht dieses Puzzle aus zerfledderten Stoffetzen. Also habe ich sie gereinigt, ausgebürstet, nachkoloriert, Stück für Stück vernäht, bis sich zusammenhängende Szenen ergaben. Und allmählich ist darüber auch die Zeit vor Hanna in ihren Besitz übergegangen. Meine Geschichte ist die, die Hanna verstand.« So wird die Rekonstruktion des Vorher zugleich zu einer Herkunftsgeschichte. Die in sehr starken Szenen veranschaulichte niederrheinische Kindheit – Peters selbst stammt aus Kalkar – wird mit den Augen Hannas gesehen. Sie ist das Medium, das selbst in der Vergegenwärtigung der verlorenen Heimat wieder zum Leben erwacht.
    Dabei hatten die beiden doch gemeinsam den Bauernhof des Onkels fotografiert: »Ich wollte Bilder haben, unbestechliches Beweismaterial für eine halbwegs gesicherte Rekonstruktion der Vergangenheit, gegen die labilen Schaltungen in meinem Hirn, die von Jahr zu Jahr fehlerhafter werden würden und eines Tages womöglich von einem ausgebrochenen Tröpfchen Blut hinweggespült. Feste Punkte gegen kaum meßbare, sich jeder Prüfung entziehende elektrische Signale und Lichtblitze, gegen die Aufschneiderei der Botenstoffe und ihren fatalen Hang zur Mythenbildung, gegen die Leichtgläubigkeit der Synapsen.« Gerade den physiologischen Prozessen ist nicht zu trauen, wenn es um die Erinnerung geht. Was bleibt, ist allein die Abbildung in der Kunst oder in der Literatur. Wobei auch das nur temporäre Siege gegen die letztlich doch immer die Oberhand behaltende Vergänglichkeit sind. Das Schicksal der Holzkunst seines Forschungsgegenstands Douwermann steht dafür: »Es ist nicht die Frage ob, sondern nur wann sich der Urwald alle höheren Ordnungen wieder einverleibt. Selbst die Geschichten.«
    Peters erzählt in seinem sehr pessimistischen Buch vom vergeblichen Kampf gegen die Vergänglichkeit. Und doch ist »Stadt Land Fluß« nicht zuerst ein Buch über den Tod oder das Sterben, sondern über das Leben und die Liebe, die erst vor dem dunklen Hintergrund erstrahlen. So wird das von Anfang an bekannte Faktum der tödlichen Krankheit in der Konstruktion umkreist und durch die Rückblenden verdrängt. Das Buch ist ein wunderbares Porträt Hannas, deren Präsenz der Leser beinahe körperlich spüren kann. Ein Buch über die Anwesenheit des Abwesenden, ein Buch über sinnliche Wahrnehmungen und deren angemessene Darstellung in der Kunst, die sich gerade in der Kunst der Renaissance manifestiert.
    Die Erfindung der Zentralperspektive entspricht der Wiederkehr des Realismus. Zugleich ist der Realismus der Kunst ein anderer als jener der Wissenschaft, die mit Statistiken, Heilungswahrscheinlichkeiten und Sterbezahlen rechnet und auf die Hanna vertraut: »Ohne den Glauben an Zahlenverhältnisse wäre sie als Ärztin handlungsunfähig. Hingegen wird die Kunstgeschichte von Ausnahmen diktiert. Es gilt die Abweichung von der Norm.«
    Seinerzeit hat mich das Buch vor allem deswegen besonders bewegt, weil ich meine eigene Herkunft beschrieben sah: Es gibt nicht so viele Niederrhein-Romane in der Gegenwartsliteratur. Die Frage nach der Literaturfähigkeit der eigenen Erfahrungen ist für den Glauben an die Literatur wesentlich. Zugleich ist der Roman aber motivisch äußerst genau komponiert. Die Wurzelornamente des Holzaltars entsprechen den tödlichen Wucherungen des Krebses; eine tief katholisch geprägte Weltsicht denkt Tod und Erlösung untrennbar zusammen. Auch die Gegensätze von Stadt und Land werden im Fluss aufgehoben, der räumlich tatsächlich Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Der Fluss ist aber eben auch wie bei Kracht der Fluss Lethe, der Fluss des Todes und des Vergessens, gegen dessen Macht die Literatur anrennt, anerzählt. Dem Roman ist ein verspieltes Vorwort vorangestellt, eine ironische Herausgeberfiktion, in der wortreich versichert wird, die Handlung fuße nicht auf wahren Begebenheiten. Das könne man schon daran festmachen, dass die Hauptfigur Walkenbach Niederrheiner, er, der Autor aber, Rheinländer sei, geboren in Oberwesel. Natürlich ist Christoph Peters sehr wohl Niederrheiner, und auch alle anderen Angaben des mit kunsthistorischen Fußnoten aufgebrezelten Vorworts entpuppen sich als höhere Nebelwerferei. Was wirklich stimmt, wissen wir nicht. Dass dieser Roman, der vorführt, wie Erfahrungen Kunst werden, selbst auf Erfahrungen beruht, kann man jeder Zeile ablesen.
    »Stadt Land Fluß« wurde damals von der Kritik beachtet, löste aber nicht gerade einen
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