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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart
Autoren: Richard Kaemmerlings
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einen Reim auf das Jenseits zu machen versucht, fallen ihm die Geister ins Wort und benehmen sich wie Primaner auf Klassenfahrt. Es lässt sich schwerlich eine riskantere Konstruktion für ein Buch über den Tod finden. Doch eine belesene und intelligente Autorin wie Sibylle Lewitscharoff kann von dem naheliegenden Einwand, mit der Totenrede verletze man die erzählerische Glaubwürdigkeit, nicht getroffen werden. Denn die Literatur darf alles, auch Menschen als Käfer erwachen oder Tiere sprechen lassen. Natürlich darf sie auch Tote allerprominentesten Schlags daherquasseln lassen wie ein Damenkränzchen – wir sind schließlich im Café.
    Die Grenze zwischen Leben und Tod wurde literarisch nicht nur in der Vormoderne durchaus erfolgreich überschritten. Im existentialistischen Geist haben das Thornton Wilder in »Unsere kleine Stadt« oder, daran anschließend, Max Frisch in seinem Nachkriegsbewältigungsdrama »Nun singen sie wieder« getan. Aktuelle Versuche unternahmen etwa der junge deutsche Autor Marcus Jensen in seinem Roman »Oberland« (2004) oder der Amerikaner Stewart O’Nan in »Halloween« (2003): Gerade dieser letzte Roman ist ein guter Vergleich, weil auch hier die Untoten ein plappernder, alberner Haufen sind – hier bei einem Autounfall verunglückte Jugendliche, die aus dem vorzeitig erreichten Jenseits tiefe Reflexionen über Leben und Tod anstellen.
    Bei Lewitscharoff nun dienen die Geisterstimmmen dazu, die alkoholisch beflügelten philosophisch-theologischen Aufschwünge komisch zu brechen. So soll es wohl auch höhere Ironie sein, dass gerade die zur Legende verklärten Morrison und Warhol im Jenseits aus reiner Langeweile ins Neckische regredieren: Was dem Leben des Deutschlehrers einst die Aura von Künstlertum und Freiheit gab, die große Musik der Siebziger, ist auf der anderen Seite der Himmelspforte auch nur ein sinnlos-lächerliches Ewigkeitstotschlagen. Die immer wieder beschworene Transzendenz der Kunst, der allgegenwärtigen Musik der Doors oder Dylans und der beschworenen sakral-mystischen Tradition moderner Literatur, ist eine Vermischung von Weltlichem und Göttlichem. Die im Text immer wieder aufblitzende, aphoristisch glänzende Sprachkraft Sibylle Lewitscharoffs ist somit ein Abglanz der Erlösungshoffnungen, die die banale Realität des Jenseits längst dementiert hat: Zimmermann rätselt lange über seine Eindrücke von der Hadesfahrt: eine merkwürdige Schleuse, ein kichernder Jesus.
    Am Ende des Romans mischt sich der göttliche Logos selbst in die Totenrede ein. Ob der betrunkene Zimmermann sein Delirium oder seine Erleuchtung erlebt, ist nicht mehr zu unterscheiden. Der Titel des Romans, der auf die letzten Worte Jesu am Kreuz (»Consummatum est«, »Es ist vollbracht«), aber auch auf den Alkoholkonsum des Erzählers anspielt, bleibt in der Schwebe. Der Tod mag uns aus den Fesseln banaler Alltagsexistenz befreien, doch vielleicht wartet »dort« nicht nur das Reich der Freiheit, sondern ganz neue, quälendere Fragen.
    Einer der besten Romane der letzten Jahre über das Sterben trägt den Titel »Du stirbst nicht« (2009). Die 1958 in Gotha geborene Schriftstellerin Kathrin Schmidt hat darin die Erfahrung einer lebensgefährlichen Krankheit, einer Hirnblutung, verarbeitet. Der Roman ist die Geschichte einer Wiedergewinnung der verlorenen Sprache, einer langsamen Rückkehr zur Welt durch die Worte. Die Schriftstellerin Helene Wesendahl erwacht in der stroke unit und kann sich nicht artikulieren: »Sie nimmt die Tablette aus der Schale und legt sie daneben. Die anderen schluckt sie. Es ist ein Antibiotikum dabei gegen Harnwegsinfekte. Das braucht sie eigentlich nicht, denn asymptomatische Bakteriurie begleitet sie, seit sie erwachsen ist. Aber das kann sie nicht sagen.«
    Verbunden mit der Krankheit ist ein Gedächtnisverlust, so dass der Roman seine Dramaturgie auch aus dem Rätsel der dem Zusammenbruch unmittelbar vorausgegangenen Ereignisse bezieht. In den Prozess der Rekonvaleszenz bettet Schmidt die Ehe ihres Alter Ego Helene ein. Ihr Mann Matthes und ihre insgesamt vier Kinder besuchen sie, was Gelegenheit zu ausführlichen Rückblenden in die Geschichte einer Ehe unter den Bedingungen des realen Sozialismus gibt. Ohne dass die Parallele zu sehr strapaziert würde, steht der Gedächtnisverlust im Roman auch für die schwindende Erinnerung an die DDR . Die private Amnesie symbolisiert die kollektive – wenn Helene beispielsweise ihren Kindern die Schokolade kauft,
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