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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart
Autoren: Richard Kaemmerlings
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die sie selbst als Kind liebte, und niemand ihr Urerlebnis nachvollziehen kann.
    Die eigentliche Geschichte des Romans, die Vorgeschichte des Unglücks, ist die unerhörte lesbische Liebesbeziehung Helenes zu der Transsexuellen Viola Malysch, einer in ihrer tragischen Gebrochenheit großartigen Figur. Stück für Stück erinnert Helene sich an diese große, leidenschaftliche Liebe, deren Scheitern zum Krankheitsauslöser beitrug. Als Helene gerade dabei ist, die Geschichte wiederzugewinnen, überbringt ihr Mann Matthes die Nachricht von Violas Tod. Das emotionale Zentrum des Buchs ist nicht Helenes Rettung, sondern der Untergang Violas, die den Zumutungen ihres natürlichen Geschlechts nicht auf Dauer entkommen konnte. »Du stirbst nicht« – der Befehl oder der Wunsch oder die sachliche Feststellung des Mannes hat auch eine Betonung auf dem ersten Wort: Helene stirbt nicht, aber die weniger robuste, die immer zwischen den Lebensmöglichkeiten schwebende Viola. Helene findet zurück, zu den Gedichten, zur Sprache, zu ihrem Mann, zum Leben. Kathrin Schmidts Roman ist ein Triumph über die Krankheit.
    Der Tod hat in der Gegenwartsliteratur eine Stimme, aber nicht das letzte Wort. Er wird erzählt, aber nicht weggeredet. Er ist Thema, aber nicht das Fazit. Die Literatur lässt Raum für die Möglichkeit seiner Überwindung.
    Ein weises und leichtes Buch über den Tod hat der große Schweizer Erzähler Urs Widmer 2009 geschrieben: »Herr Adamson«. Darin sitzt ein alter Mann, vierundneunzigjährig, im Jahr 2032 auf einer Bank im Garten und erzählt in ein Aufnahmegerät, »so groß wie zwei Stück Zucker«. Für seine Enkelin Anni ist die Geschichte gedacht, die von den Indianerspielen seiner eigenen Kindheit handelt und von Herrn Adamson, dem der achtjährige Junge einst in diesem Garten begegnet ist. Dieser nette, freundliche, etwas kauzige Greis, den man sich unwillkürlich ein bisschen wie Pan Tau aus dem tschechischen Kinderfilm vorstellt, taucht eines Tages wie aus dem Nichts auf und verschwindet ebenso plötzlich wieder, stellt seltsame Fragen, etwa nach dem Datum oder nach dem Wohlergehen irgendwelcher Nachbarn und spielt in der Zwischenzeit mit dem Kind Verstecken wie ein Jungspund.
    Herr Adamson ist ein Toter, der selbst zum Führer durch das Reich der Toten wird, er weiht den mit roten Ohren lauschenden Jungen in die Geheimnisse des Jenseits ein, die zugleich seine eigene Präsenz erklären. Jeder Mensch wird im Augenblick seines Todes zum »Vorgänger« eines anderen: »Du siehst mich, weil ich in genau dem Augenblick gestorben bin, in dem du zur Welt gekommen bist. Ich sage nicht Jahr oder Tag oder Stunde oder Minute oder Sekunde. Ich sage Augenblick.« Und jeder »Nachfolger« wird von ebendiesem Vorgänger abgeholt, wenn es Zeit ist. Für jeden trägt der Tod also ein anderes Antlitz, und da jeder Todesbote aussieht wie in seiner eigenen Sterbestunde, kann man von Glück sagen, wenn es ein netter alter Mann auf Socken ist.
    Ein Eingang zur ziemlich betriebsamen Unterwelt liegt nun zufällig im Garten des Nachbarn, doch dass Herr Adamson den Jungen behelligt, der doch noch fast eine Ewigkeit vor sich hat, hat einen anderen Grund. Denn Herr Adamson will seiner geliebten Enkelin ein Vermächtnis zukommen lassen, wozu er – sozusagen aus jenseitsphysikalischen Gründen – die Hilfe eines Lebenden braucht.
    Urs Widmer, selbst Jahrgang 1938, lässt den uralten Mann auf der Bank ein Märchen erzählen, eine Geschichte für die Enkel und Urenkel, in der der nahe Tod nur noch einen ganz kleinen Stachel hat. Zum Abschied von seinen Lieben gibt er dem Rekorder das langgehütete Geheimnis vom Herrn Adamson preis, der ihn vom Fortleben der Toten überzeugte. Herr Adamson war sogar, wenn auch unfreiwillig, sein Führer in der Unterwelt, sein Vergil, dem der Dreikäsehoch heimlich ins Chaos des Totenreichs folgte, auf der verzweifelten Suche nach einem kindgerechten Ausgang. Inmitten der antiken Ruinen von Mykene erreichte man mit letzter Kraft wieder die Oberwelt, wo sich herausstellte, dass auch den Mykene-Ausgräber Schliemann mit Herrn Adamson und seiner Enkelin eine komplizierte Geschichte verbindet.
    Die aberwitzige Konstruktion, die im weiteren Verlauf noch in ein amerikanisches Reservat der Navajo-Indianer führt, folgt, wie von Widmers Frühwerk her gewohnt, einer Traumlogik. Schon in der »Forschungsreise« (1974) war die Poetik des Abenteuers zugleich eine abenteuerliche Poetik. Die Unwahrscheinlichkeit der
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