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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart
Autoren: Richard Kaemmerlings
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Boom der Jenseitsdarstellungen aus. 2001 aber gewann Michael Lentz den Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb mit seiner furiosen Litanei »Muttersterben«, einer Wut- und Trauerrede, die mit der Mitteilung beginnt: »mutter verschwand am neunzehnten August neunzehnhundertachtundneunzig gegen dreiundzwanzig uhr und fünfzig minuten.« Ein Text, der die Klischees der Todesanzeigensprache und Nachrufrhetorik dadurch unterläuft, dass er jedes Detail wie in einer polizeilichen Beweisaufnahme festhält. Wann wo gewesen als die Todesnachricht kam, was getan, was bei der Beerdigung gedacht, wie bei der letzten Begegnung verhalten: »Ich warf eine gelbe rose in den schacht. Die rose lag vorbereitet in so etwas wie einer schachtel. Man greift in die schachtel hinein und nimmt eine rose heraus. Dann wirft man die rose in den vorbereiteten schacht hinein. Es ist aber nicht so, dass man an ein hineingestoßenes leben denkt, man wirft die rose in den schacht und weint.« Die Effekte des Textes beruhen auf dem Kontrast von intimster Mitteilung und allgemeiner, fast behördenhafter Sprache, der »Uneigentlichkeit des Man«, wie Heidegger das genannt hat. Die Rose ist vorbereitet, der Schacht ist vorbereitet, und auch die Sprache selbst ist vorbereitet, so dass die individuelle Trauer keinen Ausdruck finden kann. Oder eben nur in der Literatur, der Kunst, die für die Ausnahmen, für das Besondere zuständig ist. Auch bei Lentz wird der Sterbetext zu einem gerade in seiner Normalität berührenden Porträt: »Zusammenfassung des lebens als mitteilung da ist krebs im darm.« Wohl kein Zufall, dass auch Lentz ein katholisch geprägter Rheinländer ist: »Was ist das was einer denkt? Wohin gehen all diese gedanken, nachdem das betriebssystem erloschen ist? Kreist das dauernd in sich selbst?«
    Die Literatur hat diesen von Michael Lentz herausgeschrienen Text durchaus als Startschuss begriffen. Sibylle Lewitscharoff ist in ihrem Roman »Consummatus« (2006) so weit gegangen, sogar die Toten selbst auftreten zu lassen, quasi die Gedanken nach ihrem Erlöschen zur Sprache zu bringen. Während Ralph Zimmermann, Deutsch- und Geschichtslehrer, wie jeden Samstag im Stuttgarter Café Rössler sein Frühstück einnimmt, umschwirren ihn die Geister der Vergangenheit oder besser die Seelen der Toten. Einst zog er mit der schönen, rätselhaften Sängerin Joey durch Europa, erlebte neun Monate einer sehr irdischen Transzendenz, die Verklärung seines sonst so spießigen Daseins, bis sie durch einen Unfall starb.
    Seltsam unerlöst schweben nun die körperlosen Schatten Joeys und ihrer alten Freunde aus New Yorker Tagen, Andy Warhol, der Doors-Sänger Jim Morrison und der »Factory«-Star Edie Sedgwick, um ihn und Kuchen und Filterkaffee herum, um sich wichtig zu machen, albern zu sein und vor allem, um jeden seiner Gedanken zu kommentieren und korrigieren. Was albern wirken könnte, ist als Phantasiewelt Zimmermanns durchaus konsequent, der sich auch einbildet, wie ein moderner Orpheus ins Totenreich gereist zu sein und dort seine geliebte Joey gesehen zu haben (und auch seine Eltern, die bei einem Unfall ums Leben kamen). In den merkwürdigen verschneiten, stark alkoholisierten Alltag Zimmermanns, der mit Bob Dylan nicht nur seinen bürgerlichen Nachnamen teilt, bindet Lewitscharoff eine Normalo-Biographie ein, die durch die verrückte Rock-’n’-Roll-Eskapade gerechtfertigt wird – ein einziger Moment der Lebensintensität soll die Biederkeit des Lehreralltags aufwiegen. Eine ironische Bestätigung des Mottos »Live fast, die young«, dem die großen Helden folgten. Zimmermann hat den Zeitpunkt verpasst und muss sich jetzt im Schnee des Stuttgarter Fegefeuers herumtreiben.
    Diese pathetische Lebensbeichte und große Totenklage eines modernen, sozusagen umkehrten Orpheus (nicht er, sondern seine Eurydike sang zum Stein- und Beinerweichen) wird immer wieder unterbrochen durch die vorwitzigen, albernen, lebensweisen Kommentare der regen und kregen Totengeisterschar um die schon zu Lebzeiten fledermäusig-flatterhafte Joey. Die Joey-Figur ist der 1988 verunglückten Underground-Ikone Nico nachempfunden. Die nur vom Leser, nicht vom Erzähler wahrnehmbaren Promi-Stimmen aus dem Off des Lebens sind in blasserer Schrift abgesetzt, als sei dem Jenseits die Tinte ausgegangen.
    Während Zimmermann bei Kaffee und mehr und mehr Wodka sein Leben Revue passieren lässt, wehmütig der knapp einjährigen wilden Zeit auf Tournee mit Joey gedenkt und sich grübelnd
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