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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart
Autoren: Richard Kaemmerlings
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normative Poetik unter umgekehrten Vorzeichen ist, wird dieses Argument vor allem von den Kritikern verwendet, die sich von der aktuellen Produktion ohnehin schon länger angewidert verabschiedet haben und daheim von Zeit zu Zeit ihre schönen Werkausgaben entstauben.
    Natürlich ist die Vergangenheit ein legitimer und auch notwendiger Gegenstand der Literatur, ist die Erinnerung ein zentraler Motor und ein Medium des Schreibens. Der moderne Gesellschaftsroman tritt im neunzehnten Jahrhundert als Konkurrent, ja Korrektiv der Geschichtsschreibung auf den Plan, bei Sir Walter Scott oder bei Leo Tolstoi, dessen »Krieg und Frieden« sich lesen lässt als eine gewaltige Revision der damals vorherrschenden Geschichtsdeutung (zur Entstehungszeit lagen die historischen Ereignisse, die Napoleonischen Kriege, fast fünfzig Jahre zurück). Es liegt auf der Hand, dass gerade nach einem Epochenbruch die Bewältigung des Vergangenen, auch die Bewahrung des Verlorenen auf dem Programm stehen, also die großen Themen Schuld und Trauer. Dass sich die Nachkriegsliteratur am Nationalsozialismus abgearbeitet hat, ist ebenso selbstverständlich wie die Beschäftigung mit der Wende nach 1989. Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« entstand in den zwanziger und dreißiger Jahren, ist aber ein Nachruf auf die mit dem Ersten Weltkrieg untergegangene Habsburgermonarchie.
    Zu bedauern und zu beklagen ist allerdings eine übermäßige Bindung der Literatur an längst ausgiebig bearbeitete und auserzählte historische Gegenstände. Lange Zeit schienen deutschsprachige Romane nicht loszukommen von der unumgänglichen Fixierung auf die Zeit des Nationalsozialismus, auf den Krieg, die Schoa, den Widerstand, aber auch die Vertreibung oder »Achtundsechzig«. Das ging der Literatur nicht allein so; der deutsche Film und Fernsehfilm hatten noch in den Nullerjahren eine schwere Historienphase. Mit dem zeitlichen Abstand wächst aber die Gefahr der Reproduktion von Klischees, des Recyclings der immer gleichen Gemeinplätze. So wenn etwa der ostdeutsche Schriftsteller Christoph Hein glaubt, einen weiteren RAF -Roman schreiben zu müssen, der vor Plattitüden nur so strotzt (»In seiner frühen Kindheit ein Garten«, 2005), oder wenn die sonst so originelle und stilsichere Julia Franck in ihrem Erfolgsroman »Die Mittagsfrau« (2007) eine Weimarer Republik schildert, die wie von einem Kostümfilm über die Goldenen Zwanziger abgepinselt wirkt.
    Natürlich mag es Romane geben, die tatsächlich einen neuen Blick auf Vergangenes werfen, der berühmte Tabubruch etwa, der den Franzosen Jonathan Littell (2006) mit seinen »Wohlgesinnten« zu einem weltweit bekannten Skandalautor machte, aber die Originalität des Neuen ist keine Selbstverständlichkeit. Es dürfte nicht leicht sein, einen historischen Roman über die Napoleonischen Kriege zu schreiben, der an die Seite, geschweige denn an die Stelle von »Krieg und Frieden« treten könnte, oder ein Buch über die k.u.k. Monarchie, das es in puncto Modernität mit dem »Mann ohne Eigenschaften« aufnehmen könnte.
    Das Historische im Roman darf kein Selbstzweck sein, schon gar nicht nur bunte Kulisse, sondern muss immer auch »Vorgeschichte« des Heute sein, wie eine Krankheit oder ein Verbrechen eine Vorgeschichte haben. Wenn die Gegenwart ein Fall ist, unsere Gesellschaft ein Tatort und der Autor ein Kommissar, dann wäre die Vergangenheit ein Teil der Lösung. Ansonsten ist sie eine Flucht.
    Denn es gibt doch eine ganz simple Überlegung: Warum soll sich denn der Leser, und also auch der Kritiker, überhaupt Neuerscheinungen zuwenden, wenn sich mit ihnen nicht ein Versprechen auf Gegenwartserkenntnis verbinden würde? Auch wenn das nicht zwingend Politik und Wirtschaft, sondern auch das Nachbeben der großen Systeme im Privaten oder auch den Niederschlag des Sozialen in der erzählerischen Form meinen sollte – irgendeinen Gegenwartsbezug darf er schon erwarten. Denn andernfalls fragt er sich womöglich, ob er nicht bei den bewährten Klassikern bleiben soll. »Zeitlosen« Fragen und Problemen kann er sich mit Tolstoi und Dostojewski, mit Joseph Conrad und Iris Murdoch und John Updike ebenso gut und wohl im Durchschnitt besser stellen als mit brandaktuellen Büchern, von denen doch die größte Zahl eher nicht zur Weltliteratur aufsteigen wird.
    Das ist kein abstraktes Argument. Man soll nicht denken, dass den Kritikern ja nichts anderes übrigbliebe, als Gegenwartsliteratur zu besprechen, oder den
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