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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart
Autoren: Richard Kaemmerlings
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Leben verändert, müsste bedeuten, dass es meine Wahrnehmung verändert. Wenn also die »Suche nach der verlorenen Zeit« meine Wahrnehmung verändert, heißt das, dass ich danach etwa in den Menschen, denen ich begegne, proustsche Typen wiedertreffe, dass mir Menschen meiner Umwelt wie Real-Life-Adaptionen des Romankosmos erscheinen. Da vorne ein Baron Charlus, dort ein Maler Elstir.
    Doch so geht es mir nicht. Ich kenne solche Menschen nicht. Ich lese gerade deshalb gerne Proust, weil mir solche Menschen fremd sind. Oder die Menschen aus Dostojewskis Romanen. Ich kenne persönlich keinen Nikolai Stawrogin oder einen Aljoscha Karamasow. Deswegen lese ich diese Romane: Um Menschen kennenzulernen, die mir in Frankfurt-Bockenheim oder am Prenzlauer Berg nicht über den Weg laufen. Literatur, Weltliteratur ist Erfahrungsersatz. Gegenwartsliteratur aber ist Erfahrungsdeutung. Sie schließt mir das auf, was ich zunächst aus Nichtliteratur, aus meinem Leben kenne. Weltliteratur, wie ich hier die Gesamtheit der bleibenden Werke der Vergangenheit bezeichne, ist genauso unabdingbar wie die Gegenwartsliteratur. An keiner Literatur der eigenen Zeit, und stamme sie aus der fernsten Kultur und der seltensten Sprache, kann ich solche Erfahrungen der Fremdheit machen wie an Werken der Vergangenheit. Beides, Fremdheit und totale, vorbehaltlose Identifikation, kann zu großen Leseerlebnissen werden. Beide erheben den Anspruch, Change-Literatur, Veränderungsliteratur, zu sein. Alles andere ist von rein historischem Interesse.
    Die Gegenwartsliteratur kann ihren Auftrag aber nur einlösen, wenn sie sich ihrer Zeit auch zuwendet. Wenn sie Themen und Stoffe, Obsessionen und Ängste, Phantasien und Hoffnungen ihrer Epoche in Erzählungen ausprägt. Wenn sie Formen und Sprechweisen findet und erfindet, die dem Bewusstseinsstand der Gegenwart gewachsen sind. Literatur ist ihre Zeit, in Geschichten gefasst.
    Zum Jahresende 1999 bilanzierte der Schriftsteller Helmut Krausser seine Lektüreerfahrungen: »Mein Gott, wie viel Mist ich in diesem Jahr gefressen habe (sogar zu Judith Hermann und B. Schlink hab ich mich überreden lassen), und dann, in nur acht Wochen, zwei große Leseereignisse – Márai – Die Glut – aber da war gegen Schluss noch manches besser zu machen – und jetzt: Lehrjahre des Herzens von Flaubert.« Hier ist das Vergangene am Kanonischen plötzlich gerade der Reiz, der Roman sei »Kino und Zeitmaschine«. »Ach, ist das toll. Ich kann mich gar nicht mehr einkriegen, hatte geglaubt, großes Lesen sei vorüber, sei wohl doch nur adoleszierend möglich gewesen, jetzt nicht mehr, man hätte zu viel schon gesehen, sei zu ausgebufft und abgeklärt. Quatsch alles.« Dieses »große Lesen« kann sich auf Historisches und Gegenwärtiges beziehen, nur aus unterschiedlichen Motiven.
    Wie man sich in bestimmten Lebensphasen schneller und riskanter verliebt als in anderen, ist man auch in manchen Lebenslagen empfänglicher für solche radikalen Leseerfahrungen. Jeder hat als Heranwachsender solche Bücher. Später wird das schwieriger, gerade als professioneller Leser, als Literaturwissenschaftler, als Lektor oder Kritiker. Wann also habe ich in den letzten zwanzig Jahren Literatur gelesen, die meine Sicht auf die mir bekannte Welt radikal und für immer verändert hat? Spontan fallen mir zwei, nun gut, sagen wir zweieinhalb Bücher ein, für die ich das sofort und umstandslos sagen würde. Das eine Buch hat meinen Blick auf mich selbst verändert, das andere meinen Blick auf meine Umgebung. Das eine Buch ist »Sportreporter« (1986) von Richard Ford. Das zweite ist »Abfall für alle« (1999) von Rainald Goetz. Ach ja, das halbe: Das ist Michel Houellebecqs »Ausweitung der Kampfzone« (1994).
    Aus der Geschichte des Sportreporters Frank Bascombe – die dann noch in den beiden Romane »Unabhängigkeitstag« (1995) und »Die Lage des Landes« (2007) weitererzählt wird –, habe ich gelernt, wie sich ein intelligenter, gebildeter, sich selbst scheinbar völlig durchschauender Mensch doch im Kern täuschen und an sich selbst vorbeileben kann. Ein klarer Fall von identifikatorischer Lektüre, des tua res agitur . Ein zynischer und gleichwohl gutwilliger Durchschnittsmensch wie Bascombe dient als Medium, durch das plötzlich das ganze gegenwärtige Leben, der freie, westliche, bürgerliche Lebensstil als »uneigentlich«, als ein Davonlaufen vor dem wirklichen Leben erscheinen. Je nach Lebenssituation und Stimmung kann einen das
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