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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart
Autoren: Richard Kaemmerlings
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Buchkäufern nichts anderes, als sie zu kaufen und zu lesen. Warum denn? Es gibt genug Neuübersetzungen, Wiederveröffentlichungen, Entdeckungen oder Werkausgaben, denen man sich ausführlich widmen kann. Das gilt auch für die Verlage. Schriftsteller müssen also rechtfertigen, warum sich ihr Roman aus dem Jahrgang 2011 zu lesen lohnt, wenn ich mir doch in der gleichen Zeit ein noch ungelesenes Meisterwerk der klassischen Moderne zur Brust nehmen kann. Und außerdem könnte man auch schlicht mit dem Wiederlesen der guten Bücher das restliche Leseleben verbringen. Anders als bei Weinen, sind die älteren Jahrgänge auch nicht teurer als die neueste Produktion, im Gegenteil. Wenn ich rasch Stoff für die sprichwörtliche einsame Insel suchte, wäre ich mit einem Antiquariat definitiv besser bedient als mit einer Durchschnittsbuchhandlung, die nur Bestseller und die Neuheiten der Saison im Sortiment hat. Wozu Neues? Wenn nicht zur Erkenntnis des Neuen, also der Gegenwart?
    Es geht also um die Umkehrung der Beweislast: Neue Romane müssen erst einmal rechtfertigen, warum sie den alten vorzuziehen sind. Ihre Neuheit allein spricht eher gegen sie. Das entspricht auch der Leseerfahrung. Lebenszeit ist Lesezeit und viel zu schade, um sie auf Dauer mittelmäßigen Büchern zu opfern. Dass der Markt aber gerade Neuheit prämiert und insofern extrem vergesslich ist, das teilt die Literaturbranche mit vielen anderen Sphären, beispielsweise mit der Möbelbranche: Ikea könnte dichtmachen, wenn alle jungen Ehepaare anfangen würden, die alten Schränke ihrer Eltern aufzupolieren. Der Unterschied ist aber, dass Literatur wie jede Kunst nicht altert und allenfalls – in Maßen – Moden unterworfen ist. Man käme trotz allem gänzlich ohne Gegenwartsliteratur aus, ohne dass der aufregende Lesestoff knapp würde – es sei denn, man will eben etwas über unsere Gegenwart oder auch über deren Zukunft erfahren. Jedes neue Buch sollte antreten, etwas über unsere Zeit zu sagen, das seine Vorgänger eben noch nicht sagen konnten. Oder noch nicht so sagen konnten.
    Diese Differenz ist entscheidend. Denn dieses Neue führt eben dazu, dass sich auch meine Sicht auf die Welt ändert. Über mein Verständnis der Welt, meine Wahrnehmung schiebt sich die Optik des Buches, wie eine Linse, die meine Sicht schärft, im Idealfall, natürlich möglicherweise auch verzerrt oder wie ein Kaleidoskop in alle möglichen Richtungen zerstreut. Vielleicht sorgt die Literatur auch dafür, dass ich erst einmal gar nichts mehr sehe, das Gefühl habe, blind und orientierungslos zu sein. In jedem Fall handelt es sich dabei um eine einschneidende Veränderung. Bücher, die eine solche neue Optik erzeugen, die ein unerhörtes System von Begriffen und Geschichten über meine bisherige Welt- und Selbstwahrnehmung legen, die also alles anders werden lassen, sind wirklich unersetzlich. Die Zeile »Du musst Dein Leben ändern« aus Rilkes Sonett »Archaischer Torso Apollo« könnte auch als Motto taugen. Bei Rilke gilt der Anspruch, lebensverändernd zu sein, den Betrachter oder Leser gewandelt zurückzulassen, ihm einen bleibenden Stachel ins Fleisch zu stoßen, für jede Kunst: Yes, you can. Gerade die große Kunst der Antike, die normsetzende, überzeitlich wirkende »Klassik« eben, wird durch diese Macht charakterisiert.
    Doch gerade deswegen, weil die Klassiker, die antiken oder die modernen, bereits diese Kraft besitzen, müsste sich die Kunst der Gegenwart diesen Maßstab setzen. Auch sie muss Change-Literatur sein wollen, den Leser betreffen, berühren, wandeln wollen, ihn anzugreifen und zu ergreifen, vielleicht auch zu verletzen trachten.
    Ein Buch, das ihr Leben verändert – das ist eine gerade in jüngster Zeit wieder sehr beliebte Kritikerphrase. Auch von manchem Klassiker sagt man das. Es ist fast schon eine Art Therapieersatz, sich für ein Jahr zum Proust-Lesen zurückzuziehen. So hat beispielsweise der Berliner Autor Jochen Schmidt der Welt in einem Blog und dann in Buchform mitgeteilt, was die »Recherche« mit ihm so gemacht hat (»Schmidt liest Proust«, 2008).
    Nichts dagegen – man lernt sicherlich vieles aus Proust, vor allem über Proust selbst, über seine Zeit und darüber, wie man einen Roman von fünftausend Seiten schreibt. Aber in welcher Hinsicht verändert Proust mein Leben, außer dass man nach der Lektüre ein Jahr älter ist und vielleicht wieder zum Augenarzt muss, um die Sehstärke anpassen zu lassen?
    Dass ein Buch mein
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