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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart
Autoren: Richard Kaemmerlings
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ganz schön aus der Bahn werfen – oder eben auf eine richtige Spur setzen. Glücklich verheiratet, wie ich damals zu sein glaubte, war Richard Ford für mich aber ein schleichendes Gift, das vorhandene Auflösungserscheinungen verstärkte oder wie ein Teststreifen sichtbar machte: Literatur, verfasst auf Lackmuspapier.
    Folgt daraus, dass die deutschen Autoren »wie die Amerikaner« schreiben müssen? Warum sollte man das tun, wenn es doch die Amerikaner schon gibt? Darüber kann man lange und sehr abstrakt diskutieren, aber was zählt, ist, wie im Fußball, auf dem Platz. Der Münchner Autor Stefan Mühldorfer hat die Angleichung an die transatlantischen Vorbilder so auf die Spitze getrieben, dass es schon nach Parodie aussehen könnte, wäre es nicht so aufwendig und mit großem künstlerischem Ernst gemacht. Sein im Frühjahr 2009 erschienener Roman »Tagsüber dieses strahlende Blau« ist ein derart perfekter Richard-Ford-Roman geworden, dass man ständig das Gefühl hat, eine Übersetzung zu lesen. Der Enddreißiger Robert Ames, der Ich-Erzähler, Versicherungsmakler, »married with children«, gerät aus dem titelgebenden heiteren Himmel in eine Lebenskrise. Die Handlung des Buchs, das in einer Kleinstadt in Ontario spielt, konzentriert sich auf einen einzigen Tag, in dem Ames’ Dasein aus scheinbar nichtigen Anlässen zerbröselt. Das ganze Setting, der zynisch-räsonierende Ton, die »durchschnittliche« Anlage der Hauptfigur (Fords Frank Bascombe ist ein Immobilienmakler), die Art und Weise, in fast zufälligen Rückblicken ein ganzes Leben und eine ganze Weltsicht auszubreiten, und zugleich ein Milieu so plastisch und nur hauchdünn die Grenze zum Satirischen überschreitend. All das macht dieses Buch zu einer hundertprozentigen Einlösung des paradoxen Programms, einen (nord-)amerikanischen Roman auf Deutsch zu schreiben.
    Stefan Mühldorfer muss es zweifellos genauso gegangen sein wie mir. »Sportreporter« und »Unabhängigkeitstag«, aber auch die Bücher John Updikes, die »Rabbit«-Romane um Harry Angström müssen ihn so betroffen haben, dass er genau so ein Buch auch schreiben wollte. Das ist der Idealfall der Rezeption, eine Gegenwart, die selbst wieder Gegenwart produziert. Eigentlich ist es ja bei mir auch nicht anders. Die Bücher haben mich so herausgefordert, dass ich selbst ein Buch über sie schreibe, allerdings nicht als Kopie im Maßstab eins zu eins, sondern als Umschrift und Über-Schrift. Dieses Buch.
    Ein ganz anderer Fall ist Rainald Goetz, dessen 1998 geführtes Internet-Tagebuch (Blog sagte man damals noch nicht) ich erst ein Jahr später in Buchform las: »Abfall für alle«. Das war fast eine unheimliche Begegnung der dritten Art. Anders als die Midlife-Kritiker Ford oder Updike schreibt er von persönlichen, gar intimen Dingen praktisch nichts. Goetz’ »Abfall« ist ein riesiger Filter, durch den die ganze, uns alle tagtäglich umgebende Medien- und Kulturwelt strömte: Wie zu seinen besten Zeiten bei Harald Schmidt, so wollte man einfach zu jedem Kulturereignis, zu jedem Zeitungsartikel, zu jedem Promi-Auftritt wissen: Wie sieht denn der Goetz das? Was sagt er dazu? Wie kann man denn die Dinge auch sehen, unvernebelt, unverschleiert, remastered?
    Was war daran das Besondere? Kommentatoren gibt es doch schließlich an jedem Kiosk. Bei Goetz ging es nicht darum, eine Meinung zu haben, sondern den Durchblick. Den klaren, auf welchem Koks-Würfel auch immer kaltgestellten Röntgenblick. Ich konnte mir bis dahin kaum vorstellen, dass es so ein unabhängiges Gesamtbewusstsein geben kann, eine Instanz, die alles filtern und scannen und clearen konnte wie eine riesige Kläranlage des Zeitgeistes. Ein Beispiel aus dem Juli 1998, als Goetz im Rahmen der Dreißig-Jahr-Feierlichkeiten für 1968 auf den Altkommunarden Rainer Langhans getroffen war: »Ich bin ja nicht gegen Geschichte. Nochmal wegen 68. Man kann sie nur nicht zu Kapital erklären oder feiern, man kann keinen Gewinn aus ihr ziehen und nicht auf sie verweisen als einen Renommée-Aussende-Ort, so wenig wie man sie kritisieren kann. Die Kürze der Gegenwart, ihre immer neue Geschichtsnähe, verbietet der Gegenwart jede Dominanz über Geschichte.« Und etwas später, in Bezug auf Langhans’ »Rentnerismus von 1968«: »Die eigene Geschichte interessiert einen doch erst, wenn man tot ist. Solange man lebt, ist man IN ihr, beschäftigt damit, sie von der Gegenwartsseite her zu schaffen.« Da bringt Goetz sein Credo einer
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