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Die Tote von Schoenbrunn

Die Tote von Schoenbrunn

Titel: Die Tote von Schoenbrunn
Autoren: Edith Kneifl
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    Die Kaiserin ermordet! stand in großen Lettern auf der Titelseite der Neuen Freien Presse.
    Gustav von Karolys Augen füllten sich mit Tränen. Er hatte sie geliebt, obwohl er sie nur ein einziges Mal aus nächster Nähe gesehen hatte. Damals war er fünf Jahre alt gewesen. Sein Großvater Albert von Karoly, der Stallübergeher beim Kaiser war, hatte ihn mit ins Oktogon in den k.k. Hofstallungen genommen. Gustav hatte zusehen dürfen, wie Ihre Majestät an der Longe eine Reitstunde nahm. Ihr Antlitz war von überirdischer Schönheit und ihre Haltung wahrhaft königlich gewesen. Sie hatte einem der Engel auf den Gemälden im Schlafzimmer seiner Großeltern geglichen. Und jetzt ist sie selbst ein Engerl, dachte Gustav.
    Er hatte nicht nur die Sonderausgabe der Neuen Freien Presse gekauft, sondern auch das Extrablatt und andere Zeitungen, die er für gewöhnlich nicht las. Überall in der Stadt liefen Zeitungsverkäufer herum und schrien: „Unsere geliebte Kaiserin ist tot! Ihre Majestät, die durchlauchtigste Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn, wurde ermordet …“
    Die Menschen rissen den Kolporteuren die Aus­gaben buchstäblich aus der Hand.
    Die schreckliche Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Wien. Auf den Straßen bildeten sich Menschentrauben. Die Leute steckten die Köpfe zusammen und sprachen im Flüsterton. Handwerker und Dienstboten drängten aus den Häusern, blieben an den Toren stehen und baten die Vorübergehenden um Auskunft. Die ganze Stadt schien plötzlich in einen schwarzen Schleier gehüllt. Dunkle Regenwolken verstärkten noch die düstere Stimmung.
    Als Gustav gegen halb acht Uhr abends seine Wohnung betrat, wurde er von Vera von Karoly im Vorzimmer empfangen.
    „Hast du die entsetzliche Nachricht schon vernommen?“ Seine Tante, mit der er die Wohnung über den k.k. Hofstallungen teilte, war bleich im Gesicht. Der dicke Knoten in ihrem Nacken hatte sich gelöst. Lange graublonde Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht, und ihre Hände zitterten.
    „Von wem hast du es erfahren?“
    „Mein Fenster ist offen. Ich habe die Kutscher unten tratschen gehört. Ist es wahr? Ist sie tatsächlich ermordet worden? – Nein, sag nichts. Ich sehe es dir an. Hast du etwa geweint?“ Sie umarmte ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Dann entriss sie ihm unversehens eine der Zeitungen, ging damit in die Küche und las ihm laut aus der Sonderausgabe der Neuen Freien Presse vom Samstag, dem 10. September 1898, vor:
    „Eine niederschmetternde Nachricht ist soeben eingetroffen. Unsere edle Kaiserin Elisabeth, aus deren Händen die Welt nur Gutes empfing, ist an den Ufern des Genfer Sees, wohin sie gekommen war, um Heilung für ihre Leiden zu finden, von einem Elenden ermordet worden.
    Sehr prosaisch“, lautete Veras Kommentar. „Mal sehen, was die Kollegen von der Konkurrenz zu bieten haben.“ Sie griff nach der Gratisausgabe des Illustrierten Wiener Extrablatts.
    „Unsere Kaiserin todt!
    Ermordet von einem Anarchisten in Genf.
    Eine entsetzensvolle Nachricht durchläuft die Stadt. Unser schwergeprüfter Kaiser ist abermals von einem furchtbaren Schicksalsschlage getroffen worden, seine hohe Gemahlin unsere geliebte Kaiserin, wurde von ruchloser Hand ermordet.
    Gott gebe unserem armen Kaiser Kraft, dieses Entsetzliche zu überwinden!“
    „Hör auf, Vera, ich kann selber lesen“, sagte Gustav, der die Neue Freie Presse wieder an sich genommen hatte.
    „Kaiserin Elisabeth hatte heute eine Spazierfahrt mit dem Dampfer über den Genfer See unternommen. Als das Schiff in Genf landete und die Passagiere das Schiff verließen, näherte sich der Kaiserin ein Individuum, das ihr ein Dolchmesser in die Herzgegend stieß. Die Kaiserin wurde blutend aufs Schiff gebracht. Da sich ihr Zustand sichtlich verschlimmerte, trug man die Kaiserin ans Land und bettete sie auf eine Tragbahre, wo sie den Geist aufgab.
    Der Mörder, ein Italiener, wurde von der Menge sofort festgehalten und in Haft gebracht. Er gab an, ein Anarchist zu sein. Als die Kaiserin ins Hotel gebracht wurde, war sie bereits eine Leiche.“
    „Blödsinn. Hier steht etwas ganz anderes“, sagte Vera und las ihm wieder vor:
    „Genf, 10. September, 3 Uhr 40 Minuten nachmittags. Ihre Majestät Kaiserin Elisabeth verließ um 12 Uhr 40 Minuten mittags das Hotel Beau Rivage, um sich nach dem Landungsplatze der Dampfer zu begeben. Auf dem Wege dahin stürzte sich ein Individuum auf Ihre Majestät und führte einen heftigen Stoß
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