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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart
Autoren: Richard Kaemmerlings
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Literatur als Gegenwartsmitschrift, als Tausch von Jetzt in Text auf den Begriff.
    Auch Goetz nannte sein Werk im Untertitel den »Roman eines Jahres«. Roman, das wäre, heute mehr noch als früher, eine Kategorie der Intensität, die sich aus der Tiefe und Nachhaltigkeit ihres ästhetischen Einwirkens bestimmt. Erzählungen oder Novellen sind die One-Night-Stands des Erzählens. Sie hinterlassen selten tiefere Spuren. Der Roman hingegen zieht den Leser über Tage und Wochen in seinen Bann und verschiebt so nachhaltig dessen Kategorien. Die vielbeschworene Proust-Erfahrung kommt vor allem aus einer vielfach gesteigerten Form dieses Parallellebens. Nicht, dass man sein eigenes Leben anders sähe, man sieht es zunächst gar nicht mehr, weil man die meiste Zeit in einem Paris der Jahrhundertwende verbringt.
    Michel Houellebecqs erster Roman »Ausweitung der Kampfzone«, das halbe Buch dieser kurzen Aufzählung, war ein Schock, ein Schlag vor den Kopf. Als ich das las, war ich fasziniert und konsterniert zugleich: Wie konnte man so brutal, so wissenschaftlich kalt und illusionslos über die Jagd nach Sex, den Konkurrenzkampf in den Nachtclubs, die Gesetze von Angebot und Nachfrage schreiben? Das ganze sogenannte Liebesleben als darwinistischer Überlebenskampf, als Fortsetzung der neoliberalen Ellenbogengesellschaft mit anderen Mitteln? Das Private erschien plötzlich nicht mehr als Gegensatz zum Karrierismus und zum Leistungsdenken, sondern als seine krasseste Form; wer das weiter steigern wollte, der landete bei dem Yuppie als Serienkiller, wie ihn Bret Easton Ellis in »American Psycho« (1995) dargestellt hatte. Houellebecqs verzweifelte und einsame Angestellte waren natürlich sehr Neunziger, und so konnte nur ein heimlicher Romantiker und verkappter Utopist schreiben, der das in Wahrheit furchtbar hasst und eigentlich gern in den Siebzigern gelebt hätte, wenn die Hippies nicht solche Loser gewesen wären.
    Wie die Autoren schwankt der Leser solcher Literatur zwischen zwei Extremen, zwischen der Sucht nach Gegenwart und dem Überdruss an ihr. Denn natürlich hat das Zupackende und Fordernde einer solchen Gegenwartsliteratur auch eine Schattenseite. Sie stößt vor den Kopf und sie nervt; sie lässt den Eskapismus nicht zu, den viele Leser mit gutem Recht auch in Erzählungen suchen.
    Welches Buch der letzten Jahre hätte diese Wirkung hervorgebracht? Und könnte deshalb mit Fug und Recht der Roman unserer Zeit genannt werden? Uwe Tellkamp wurde als eine Art Proust der späten DDR bezeichnet. Allerdings kenne ich wenige Leser, die durch diesen Roman verwandelt wurden, ehrlich gesagt kenne ich persönlich niemanden, der mit seiner Verwandlung über Seite hundert hinausgekommen wäre. Der Roman verwandelt Leser in Nichtleser, das muss man auch erst einmal hinkriegen.
    Es dürfte klar sein, dass der Anspruch auf eine Verwandlung des Lesers nicht gleichzusetzen ist mit der Forderung nach einer eingängigen, leicht lesbaren und gut verkäuflichen Belletristik. Um der Gegenwart gerecht zu werden und den Leser so zu betreffen, dass er sich und sein Leben gemeint fühlt, ist die ganze Vielfalt erzählerischer Formen gefragt. Welthaltigkeit kommt der Literatur nicht allein vom Stoff her zu; vielmehr verlangen die von der eigenen Epoche aufgedrängten Inhalte und Gegenstände geradezu eine ihnen entsprechende und damit zeitgemäße Form. Dort, wo das gelingt, hat das Ergebnis mit Marktgängigkeit in den meisten Fällen wenig zu tun. Auch das Vorbild Amerika steht da nicht für eine Kommerzialisierung oder die Reduktion erzählerischer Komplexität: An Autoren wie William Gaddis, Thomas Pynchon, Don DeLillo und David Foster Wallace, aber auch an Philip Roth lässt sich gerade erkennen, dass nur ein kompromissloses Ringen um die erzählerische Form die Stoffe der Gegenwart so fassen kann, dass auch der Leser gefasst und gefesselt wird.
    Wann entstand in Deutschland dieser Anspruch auf Betroffenheit, auf das Sich-gemeint-Fühlen, auf diese Gegenwärtigkeit der Literatur? Ende der achtziger, zu Beginn der neunziger Jahre, als ich am Anfang meiner Studienzeit begann, Gegenwartsliteratur bewusst als solche wahrzunehmen, zunächst nur am Rande und relativ zufällig, an der Hand und durch die Brille der damals im Feuilleton geführten Literaturdebatten, gab es einen großen Überdruss an der aktuellen Produktion, ja sogar an der gesamten seit den fünfziger Jahren in Ost- und Westdeutschland entstandenen Erzählliteratur. Der
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