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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus
Autoren: Liz Trenow
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ist absolut sicher « , sagt sie. » Ein guter Ausbilder begleitet mich, die machen das jeden Tag mit ihren Schülern. Warte, ich zeige dir was. «
    Sie kehrt mit ihrer Handtasche zurück, einem unpraktischen, mit Pailletten besetzten Ding, zieht eine Broschüre heraus und reicht sie mir. Ich gebe vor, sie zu lesen, doch die Fotografien von fröhlichen jungen Leuten, die sich auf ihren Sprung vorbereiten, scheinen mich zu verhöhnen und machen mir nur noch mehr Angst. Sie nimmt mir das Heft wieder ab. » Du müsstest doch alles über Fallschirme wissen, denn schließlich habt ihr früher das Material dafür hergestellt, sagt Dad. «
    » Tja « , setze ich vorsichtig zu einer Erklärung an, » das Weben von Fallschirmseide war unser Beitrag zum Krieg. Es half uns zu überleben, als viele andere Seidenwebereien aufgeben mussten. « Ich sehe es vor mir, als wäre es gestern gewesen. Erinnere mich an die Webmaschinen mit ihren weißen Schutzbezügen, an die Schiffchen, die klackend nach rechts und links wanderten, an die Rollen mit der fertigen Seide, die mit jeder Drehung des Warenbaums fast unmerklich dicker wurden.
    » Warum hat man Seide genommen? «
    » Sie ist reißfest und leicht, lässt sich in eine kleine Tasche packen und faltet sich schnell auseinander. « Meine Stimme wird fester, und Stolz schwingt darin mit, obwohl ich längst die Regie in andere Hände gegeben habe. Seide ist eben unabdingbar mit meinem Leben verwoben, liegt mir im Blut. Dieses leicht muffige Nussaroma, die schimmernde Intensität ihrer Farben – Smaragd, Aquamarin, Gold, Purpur, Violett, das alles gehört zu mir. Und ich kann die exotischen Namen noch immer wie ein Mantra herunterbeten: Brigandine, Bombazin, Brokat, Dupionseide, Organza, Pongé, Chappe.
    Emily studiert den Flyer ein weiteres Mal und linst unter ihrem langen Pony hervor, der ihr in die Augen fällt. » Hier steht, dass die Fallschirme, die wir benutzen, aus qualitativ hochwertigem Ripstop-Nylon bestehen. Warum hat man damals kein Nylon benutzt? Wäre das nicht billiger gewesen? «
    » Damals befand sich Nylon noch in der Erprobungsphase, war jedenfalls nicht ausgereift genug. Für die Produktion von Fallschirmen aber ist die Qualität von entscheidender Bedeutung. Da muss alles stimmen. « Und dann kommen mir nach all den Jahren die schonungslosen Worte in den Sinn, dass beim kleinsten Fehler Piloten sterben .
    Ich bekomme eine Gänsehaut. Sie reibt mir zärtlich mit den Fingerspitzen über den Arm, sieht mich besorgt an. » Ist dir kalt, Gran? «
    » Nein, Liebes, das sind bloß die Erinnerungen. « Ich schicke ein stilles Gebet zum Himmel, dass sie niemals die Kriegsangst erleben muss – diese grauenvolle Erfahrung, wenn es keine Normalität mehr gibt und das scheinbar Unmögliche gewöhnlich wird, wenn jede Entscheidung eine Angelegenheit von Leben und Tod zu sein scheint, wenn ein Abschied oft für immer ist.
    Das alles raubt einem die Zuversicht.
    Etwas später taucht Emilys Bruder auf und drückt sich auf seine jungenhafte Art eine Weile im Salon herum, bevor er zu mir kommt, sich neben mich setzt und stumm meine Hand nimmt. Es rührt mich zutiefst. Dann kommt ihr Vater herein – abgespannt sieht er aus, mein Sohn. Sie sind offenbar mit dem Aufräumen fertig, nun beugt er sich besorgt über mich. » Können wir noch irgendetwas für dich tun, Mum? « Ich schüttle den Kopf und murmele zum wiederholten Mal meinen Dank.
    » In ein paar Minuten machen wir uns auf den Weg. Bist du dir sicher, dass das okay für dich ist? « , fragt er. » Wir können auch ein bisschen länger bleiben, wenn du möchtest. «
    Am Ende lassen sie sich überreden, nach Hause zu fahren. Obwohl ich ihre Gesellschaft liebe, sehne ich mich im Moment nach dem Alleinsein – danach, nicht länger die tapfere Witwe spielen zu müssen und mein wie eingefroren wirkendes freundliches Lächeln ablegen zu können. Ich brühe eine frische Kanne Tee auf und finde auf dem Küchentisch die von Emily zurückgelassene Broschüre über das Waisenhausprojekt – vermutlich ein dezenter Hinweis, mich um finanzielle Unterstützung zu bitten. Ich lege die Zeitung darauf, um nicht mehr an den Fallschirmsprung zu denken, doch meine zitternden Hände vermögen die Tasse nicht zu halten, ohne dass etwas überschwappt. Ich gieße den Tee in einen Becher um und trage ihn mit beiden Händen zu meinem Lieblingssessel im Salon.
    Ich bin erleichtert, dass irgendjemand den Fernseher ausgeschaltet und damit die Diashow
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