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Menschensoehne

Menschensoehne

Titel: Menschensoehne
Autoren: Arnaldur Indridason
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Eins
    Aus der Ferne sah das Gebäude wie ein Gefängnis aus. Es war über Jahre hinweg nicht instand gehalten worden. Mittelkürzungen im Gesundheitsbereich wurde so etwas genannt, und Kliniken wie diese waren immer am schlimmsten davon betroffen. Das monumentale Gebäude machte einen heruntergekommenen Eindruck. Es stand unten am Meer, umgeben von einer großen dunklen Parkanlage mit hohen Bäumen. Aus allen Fenstern drang gelbliches Licht in die winterliche Dunkelheit des frostkalten Januars hinaus.
    Pálmi ging von der Haltestelle zur Klinik und stellte fest, dass weitere Gitter an den Fenstern im zweiten Stock hinzugekommen waren. Solange er zurückdenken konnte, war er jede Woche einmal hierher gekommen, um seinen Bruder zu besuchen. Die Behandlung der Patienten hatte sich parallel zum Zustand des Hauses verschlechtert, und mittlerweile war es nur noch so etwas wie ein Verwahrungsort für psychisch Kranke, die mit Medikamenten ruhig gestellt wurden. Für Pálmi hatte dieses Gebäude immer eine Bedrohung dargestellt, und als kleiner Junge hatte er sich oft geweigert, mit seiner Mutter hineinzugehen. Stattdessen hatte er draußen gewartet, bis die Besuchszeit vorbei war. Aber jetzt konnte er nicht mehr draußen bleiben. Seine Mutter war tot, und außer ihm gab es niemanden mehr, der den Bruder besuchte.
    Durch eine schmale Seitentür gelangte er direkt auf den Korridor, den die Patienten als Raucherzone benutzten. Das war nicht der Haupteingang, aber der kürzeste Weg zum Zimmer seines Bruders. Er spürte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Bei diesem Eingang standen normalerweise immer einige Patienten und rauchten. Sie wurden in kleinen Gruppen nach unten gelassen, und dort lungerten sie dann herum und starrten auf ihre gelben Finger. Alle kannten Pálmi, der darauf achtete, jedes Mal, wenn er zu Besuch kam, eine Schachtel Zigaretten für sie dabeizuhaben. Einige bedankten sich, andere starrten nur teilnahmslos vor sich hin. Diesmal war jedoch niemand auf dem Korridor. Pálmi hörte von irgendwoher Gebrüll, und in der Ferne schrillten Alarmglocken.
    Der lange, enge und schlecht beleuchtete Korridor war vor langer Zeit vom Boden bis zur Decke mit dicker grüner Schiffsfarbe gestrichen worden. Ganz am Ende lag das Zimmer von Pálmis Bruder, aber es war niemand darin. Sonst war es immer ordentlich aufgeräumt, doch heute hatte es den Anschein, als hätte in diesem engen Raum ein Berserker gewütet. Der Kleiderschrank war kurz und klein geschlagen worden und das Bett umgekippt. Daníels Habseligkeiten lagen über das ganze Zimmer verstreut. Pálmi drehte sich um und ging rasch wieder den Gang zurück, um jemanden vom Personal zu finden. Er kam zu einer Nische, wo sich zwei Aufzüge befanden, und drückte auf beide Knöpfe. Als sich beim linken die Türen öffneten, stürzten zwei Aufseher mit einem Patienten zwischen sich heraus. Er war geknebelt.
    »Wo ist Daníel?«, fragte Pálmi. Er blickte erschrocken in die panisch aufgerissenen Augen des Patienten, der wild um sich schlug. Er hieß Natan, so viel wusste Pálmi, und war erst vor kurzem in die Klinik eingeliefert worden. Die Dreiergruppe hastete an ihm vorbei, und einer der Aufseher rief ihm zu:
    »Danni macht hier alle total verrückt. Er ist im obersten Stock und will sich umbringen. Vielleicht kannst du ihm gut zureden.«
    Dann waren sie verschwunden. Pálmi stürzte in den Aufzug und drückte auf den Knopf für den fünften Stock. Der Aufzug öffnete sich in einen geräumigen Gemeinschaftsbereich hinein. Tische und Stühle lagen wild durcheinander, die Einrichtung war demoliert, und in einer kleinen Küche brannte es. Die Angestellten kämpften mit dem Feuer und versuchten, es mit Handfeuerlöschern einzudämmen. Weiter hinten hatte es den Anschein, als wären die Patienten unter Kontrolle gebracht worden, indem man sie in einer Ecke des Raums zusammendrängte und so in Schach hielt. Von dort wurden sie einer nach dem anderen geholt und zu den Aufzügen gebracht. In einer anderen Ecke des Gemeinschaftsraums befanden sich ein paar mannshohe nebeneinander liegende Fenster. Eines von ihnen hatte eine zerbrochene Scheibe. Dort stand Pálmis Bruder und hatte dem Winterdunkel den Rücken zugekehrt.
    »Pálmi«, rief Daníel, als er seinen Bruder näher kommen sah. »Sag ihnen, dass sie sich verpissen sollen. Sie wollen mir was antun, diese verfluchten Scheißkerle.«
    »Kannst du nicht versuchen, ihn zur Raison zu bringen?«, fragte ein offensichtlich
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