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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus
Autoren: Liz Trenow
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ich im Flur am Spiegel vorbeigehe, sehe ich eine hagere alte Frau, die jeden Tag kleiner zu werden scheint, mit eingesunkenen Augen und strähnigem grauem Haar und in zweckmäßigem Rentnerbeige. Das kann doch nicht ich sein! Sehe ich so aus? Bin ich so sehr geschrumpft?
    Natürlich vermisse ich ihn. Obwohl es in den letzten Jahren nicht immer einfach war für mich, weil er viel Pflege brauchte und ich mich immer um sein Befinden sorgte, war doch ständig jemand im Haus. Jetzt wohne ich zum ersten Mal ganz alleine hier, und die einzige Aufgabe, die mir noch bleibt, besteht darin, dieses Haus aufzuräumen – und mein Leben.
    Emily kommt nach der Schule vorbei. Normalerweise freue ich mich, sie zu sehen, und halte für solche Gelegenheiten eine Dose mit ihren Lieblingskeksen bereit. Heute allerdings würde ich am liebsten niemanden um mich haben.
    » Was ist los, Gran? Sonst lehnst du doch nie eine Tasse Tee ab. «
    » Ich weiß nicht. Ich bin einfach schlecht gelaunt. «
    » Warum? «
    » Keine Ahnung, vielleicht wegen allem und nichts. «
    Sie sieht mich an, zu weise für ihr Alter. » Ich weiß, warum das so ist, Gran. «
    » Ich bin nur eine launische Alte, die einen schlechten Tag hat. «
    » Nein, ganz und gar nicht. Das ist Teil des Trauerprozesses und völlig normal. «
    » Was meinst du damit: Trauer prozess? Man trauert, und dann kommt man drüber hinweg? « Ich merke, dass ich unduldsam reagiere. Warum glauben die jungen Leute immer, einfach alles zu wissen?
    Emily ignoriert meine leichte Verärgerung. » Es gibt fünf Stufen des Trauerns. Wie war das noch mal? « Sie dreht eine Haarsträhne zwischen den Fingern und denkt einen Augenblick nach. » Irgend so eine Psychologin hat sie beschrieben. Okay, ich hab’s. Hörst du mir zu? Die fünf Stufen des Trauerns sind … « Sie zählt sie an ihren schlanken Fingern ab: » Nichtwahrhabenwollen, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz – so was in der Art. «
    » Heutzutage gibt es Listen für alles: in zehn Stufen zum Erfolg, zwanzig Arten, sein Leben zu verändern, diesen ganzen Müll « , murmele ich.
    » Die Autorin ist wirklich renommiert, ehrlich. Wenn ich mich nur an ihren Namen erinnern könnte. Wir haben es im Psychologiekurs durchgenommen. Du solltest darüber nachdenken. Vielleicht befindest du dich gerade auf der Stufe der Wut? «
    Sie geht, um Tee aufzubrühen, und lässt mich nachdenklich zurück. Warum sollte ich wütend sein? Meine Generation hat nicht einmal darüber nachgedacht, wie man trauert, und dabei waren wir weiß Gott häufig genug damit konfrontiert. Vielleicht gab es damals zu viel zu betrauern. Wir machten einfach weiter. Beschwer dich nicht, versuch trotz allem dein Bestes zu geben – und vor allem immer schön lächeln. So haben wir den Krieg gewonnen, zumindest wurde uns das so gesagt.
    Emily kehrt mit dem Teetablett zurück. Und den Keksen. Offenbar hat sie mein Versteck gefunden.
    » Keine Schule heute? «
    » Vorbereitungszeit für die Prüfungen nächste Woche « , sagt sie sorglos. » Was hast du vor? «
    » Packen. Sachen für den Wohltätigkeitsbasar aussortieren. «
    » Kann ich helfen? «
    » Nichts wäre mir lieber. «
    Nach dem Tee gehen wir nach oben ins Gästezimmer, wo ich zaghaft damit begonnen habe, Kommoden und Schränke auszuräumen, die seit Jahren niemand mehr angerührt hat. In einem dieser nach Mottenkugeln riechenden Mausoleen finden wir drei meiner Kostüme, die als traurige Hüllen dort hängen. Warum habe ich sie so lange aufbewahrt? Der Gedanke, eines Tages wieder einen klassischen Bleistiftrock oder ein tailliertes Jackett zu tragen, ist schließlich lächerlich. Seit Jahrzehnten habe ich die Sachen nicht mehr angezogen – sie sind Relikte aus meiner Zeit als erfolgreiche Geschäftsfrau und weisen entsprechende Gebrauchsspuren auf. Die Rückseiten der Röcke glänzen vom langen Sitzen auf Bürostühlen, und die Ellenbogen der Jacketts sind dünn geworden. Es war eine Angewohnheit von mir, bei den vielen Meetings, die ich in meinem Leben absolviert habe, die Arme auf den Tisch und das Kinn in die Hände zu stützen.
    » Also, das nenne ich Powerkleidung « , sagt Emily, während sie ein Jackett anzieht und sich selbst in dem hohen Spiegel an der Innenseite der Schranktür bewundert. » Schau dir nur diese Schulterpolster an und die winzige Taille. Du musst super ausgesehen haben, Gran. Kann ich das behalten? Breite Schultern sind so was von cool. «
    » Natürlich, Schatz. Ich dachte, die seien in
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