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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus
Autoren: Liz Trenow
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erwidere sein Lächeln mit Tränen in den Augen.
    Meine Enkeltochter bringt eine Kanne Tee. Mit siebzehn ist Emily ein kluges, sensibles Mädchen, das schneller erwachsen wird, als ich es gerne hätte. Ich entdecke in ihr so viel von mir selbst, und in diesem Alter sah ich ganz ähnlich aus. Emily ist nicht wirklich hübsch, zumindest nach gängigen Vorstellungen nicht, wohl aber ausgesprochen apart. Ihre Nase ist ein wenig zu lang, doch sie hat eine schöne, weiche Haut und einen cremefarbenen Teint. Zu ihrem Ärger wird sie leicht rot – genau wie ich als junges Mädchen. Ihr schwarzes Haar ist dicht und glatt, und ihre dunklen wissbegierigen Augen können vor Schalk funkeln oder vor Missbilligung eisig werden. Je nachdem. Und sie hat dieses entschlossene Verner-Kinn geerbt, das jedem signalisiert: » Leg dich nicht mit mir an! « Sie ist groß und schlaksig mit langen Armen und Beinen und trägt kaum etwas anderes als geflickte Jeans und Pullover von Wohltätigkeitsbasaren, die heutzutage bei ihrer Generation offenbar en vogue sind. Unkompliziert und dabei selbstbewusst, manchmal anstrengend mit ihrer Betriebsamkeit, aber immer gut gelaunt. Wäre meine eigene Tochter nicht tot zur Welt gekommen, denke ich manchmal, würde sie wie Emily gewesen sein.
    Bei der Beerdigung und dem anschließenden Empfang, wo die Farbe Schwarz dominierte, wirkte die purpurrote Strähne in ihrem Pony wie ein exotischer Vogel zwischen den dunklen Anzügen und Kleidern. Bald wird sie flügge werden wie all diese unabhängigen jungen Frauen. Doch noch schenkt sie mir ihre Gesellschaft, unterhält mich mit allerlei Geschichten, und ich genieße dankbar jeden Augenblick.
    Sie reicht mir eine Tasse dünnen Tee ohne Sahne, genau wie ich ihn mag, und lässt sich dann auf den Hocker neben mir fallen. Wir sehen uns eine Weile gemeinsam weiter die Diashow an, als sie plötzlich sagt: » Ich vermisse Granpa, weißt du. Er war ein ganz besonderer Mann, so voller Ideen und so begeisterungsfähig. Allein, wie er uns bei allem, was wir taten, unterstützt hat – selbst bei den verrücktesten Sachen. « Sie hat recht, denke ich. Ich war wirklich eine glückliche Frau, einen solchen Ehemann zur Seite zu haben.
    » Er hat mich immer nach allem Möglichen gefragt « , fährt sie fort. » Sich dafür interessiert, womit ich mich beschäftige. Nicht viele Erwachsene sind so. Ein toller Zuhörer. «
    Mein kluges Mädchen trifft wie immer den Nagel auf den Kopf. In ihren Worten schwingt ein leichter Vorwurf mit, dass ich keine so gute Zuhörerin bin. » Du kannst ja in Zukunft mit mir sprechen, jetzt, wo er nicht mehr da ist « , sage ich ein bisschen zu schnell. » Erzähl mir, was es Neues gibt. «
    » Willst du das tatsächlich wissen? «
    » Ja, bestimmt « , sage ich. Ihre Beine, die in gemusterten schwarzen Leggings stecken, scheinen meterlang unter ihrem Minirock hervorzuragen, und mein Herz ist voller Liebe, weil sie mir in diesen Minuten ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt.
    » Habe ich dir erzählt, dass ich nach Indien gehe? « , fragt sie.
    » Meine Güte, wie wunderbar « , sage ich. » Für wie lange? «
    » Bloß für einen Monat « , antwortet sie unbekümmert.
    Ich beneide sie schmerzlich um ihre Jugend, ihren Tatendrang, ihre Freiheit. Ich wollte in ihrem Alter ebenfalls reisen, doch der Krieg kam dazwischen. Meine Gedanken beginnen abzuschweifen, bis ich mich daran erinnere, dass ich ihr versprochen habe zuzuhören. » Was wirst du dort machen? «
    » Wir besuchen ein Waisenhaus. Im Dezember. Mit einer Gruppe vom College. Um das Fundament für einen Kuhstall auszuheben « , sagt sie triumphierend. Ich bin verwirrt und von der Vorstellung gefangen, wie Emily, ein reines Stadtkind, in der Hitze einen Spaten schwingt, die schlanken Hände schmutzig und voller Schwielen, das Haar staubbedeckt.
    » Warum braucht ein Waisenhaus einen Kuhstall? «
    » Damit sie frische Milch für die Kinder haben. Die wird dort nicht an die Tür gebracht wie bei dir, Granma « , sagt sie tadelnd. » Und außerdem sammeln wir Geld, um Kühe zu kaufen. «
    » Wie viel braucht ihr? «
    » Ungefähr zweitausend Pfund. Und damit wir selbst möglichst viel zusammenbringen, springe ich mit dem Fallschirm ab. Für eine Werbung – der Sponsor zahlt gut. Habe ich dir das nicht erzählt? « Bei dem Gedanken, dass Emily, mein Ein und Alles, an einem Fallschirm hängt, wird mir ganz schwindlig. Meine Enkelin merkt es und will mich beruhigen. » Mach dir keine Sorgen, es
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