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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut
Autoren: Margaret Atwood
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Verstandes und dachte: »Was mag dies sein?« Und ungefähr so lautete die Antwort: »Es ist das Universum des Geschaffenen.« Ich wunderte mich, wie es bestehen könnte; denn mich dünkte, es sollte vor lauter Winzigkeit in nichts zerfallen. Und ich vernahm und verstand: »Es bleibt bestehen und wird immer bestehen bleiben; denn Gott liebt es. Und so hat jedes Ding Bestand durch die Liebe Gottes.«
     
    Verdienen wir diese Liebe, mit der Gott unseren Kosmos zusammenhält? Verdienen wir sie − als Spezies? Wir haben die Welt, die uns gegeben wurde, genommen und deren Gefüge und Geschöpfe leichtfertig zugrunde gerichtet. Andere Religionen haben gelehrt, dass diese Welt sich gleich einer Schriftrolle zusammenrollen und zu einem Häuflein Asche verbrennen muss, bevor ein neuer Himmel und eine neue Erde sich auftun werden. Aber warum sollte Gott uns eine neue Erde schenken, nachdem wir diese so misshandelt haben?
    Nein, meine Freunde. Es ist nicht diese Erde, die vernichtet werden muss: Es ist der Mensch. Vielleicht wird Gott statt unser eine neue, barmherzigere Spezies schaffen.
    Denn die wasserlose Flut hat uns überrollt − nicht als gewaltiger Wirbelsturm, nicht als Kometenschauer, nicht als Giftgaswolke. Nein: Sondern genau so, wie wir seit langem befürchtet hatten, nämlich als Seuche − als Seuche, die nur unsere Spezies infiziert und alle anderen Geschöpfe aussparen wird. Unsere Städte sind dunkel geworden, unsere Kommunikation ist zusammengebrochen. Der Niedergang unseres Gartens spiegelt sich nun im Niedergang, der jene Straßen dort unten leer gefegt hat. Nun brauchen wir uns nicht länger vor Entdeckung zu fürchten: Unsere alten Feinde können uns nichts mehr anhaben, denn sie werden mit den Höllenqualen ihrer eigenen körperlichen Auflösung vollauf beschäftigt sein, wenn sie nicht schon tot sind.
    Wir haben durchaus keinen Grund zur Freude. Denn gestern hat die Seuche drei unserer Leute dahingerafft. Schon jetzt spüre ich in mir jene Veränderungen, die aus euren Augen spricht. Wir wissen nur zu genau, was kommt.
    Aber lasst uns tapferen und freudigen Herzens Abschied nehmen! Lasst uns mit einem Gebet für Allerseelen enden. Unter diesen sind die Seelen unserer Verfolger und derjenigen, die Gottes Geschöpfe ermordet und Seine Tierwelt ausgerottet haben, die im Namen der Liebe gefoltert haben, die den schnöden Mammon angebetet haben und die gequält und getötet haben, um an weltliche Macht und Wohlstand zu gelangen.
    Lasst uns denjenigen vergeben, die die Elefanten getötet haben, die den Tiger ausgerottet haben, die den Bären für seine Gallenblase geschlachtet haben, den Haifisch für seinen Knorpel und das Nashorn für sein Horn. Mögen wir ihnen ebenso großzügig vergeben, wie wir uns die Vergebung Gottes erhoffen, der unseren zerbrechlichen Kosmos in Seiner Hand hält und durch Seine ewige Liebe beschützt.
    Diese Vergebung ist die schwerste Aufgabe, der wir uns jemals gestellt haben. Möge Gott uns dafür die Kraft geben. Nun wollen wir uns alle an den Händen fassen. Lasst uns singen.
     
    DAS LAND VERGIBT
     
    Das Land vergibt den Bergarbeitern,
    Die es brechen und versengen;
    Seen und Fische kehren wieder,
    Obst wird an den Bäumen hängen.
     
    Das Reh vergibt dem Wolfe auch,
    Obwohl er’s reißt und es verschlingt.
    Sein Knochenmehl versorgt den Baum,
    Der wieder neuen Samen bringt.
     
    Und unter jenen schattigen Bäumen
    Wird die Wölfin schließlich ruhen,
    Wird ihrerseits zu Grase werden
    Und den Rehen Gutes tun.
     
    Gefressen werden oder nicht:
    All unsere Geschöpfe wissen
    (Blut zu Wein und Fleisch zu Fleisch),
    Dass andere für sie sterben müssen.
     
    Der Mensch allein sinnt stets auf Rache,
    Meißelt sein Gesetz in Stein:
    Tiere in den Tod zu quälen,
    Zu zermahlen bis aufs Bein.
     
    Kann dies das Abbild Gottes sein?
    Auge um Auge, Zahn um Zahn?
    Ließen sich Berge so versetzen,
    Wär die Erde flach und plan.
     
    Wir baumeln an einem seidenen Faden,
    Sind doch nur ein Körnlein Sand;
    Der Kosmos, eine winzige Kugel,
    Ruht in Gottes gnädiger Hand.
     
    Gib auf die Wut und die Verachtung,
    Mach es wie das Reh, der Strauch:
    Find in Gnade die Erlösung,
    Denn nur sie erlöst dich auch.
     
    Aus dem
Gesangbuch der Gottesgärtner

 
    77.
Ren. Sankt Juliana und Allerseelen, Jahr Fünfundzwanzig
     
    Über dem Meer geht der neue Mond auf: Sankt Juliana und Allerseelen hat begonnen.
    Als kleines Kind habe ich Sankt Juliana geliebt. Jedes Kind durfte sich aus aufgelesenem
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