Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
Kurzhaarige. »Wieso nicht zurückgehen und die Wichser einfach abknallen?«
    »Ich hab nicht mehr genug Saft in meiner Knarre. Ich brauch dringend ’ne neue Batterie. Die merken das und schlagen zu. Die hacken uns in Stücke und fressen uns auf.«
    »Wir müssen hier abhauen«, sagt der Kurzhaarige plötzlich aufgebracht. »Dreißig Mann, und wir nur zu zweit. Was ist, wenn die uns im Dunkeln überfallen?«
    Es entsteht eine Pause, während beide nachdenken. Kalte Schauer laufen mir über den ganzen Körper, so sehr hasse ich sie. Ich frage mich, worauf Toby noch wartet. Warum erschießt sie die beiden nicht einfach? Da fällt mir ein – sie ist eine ehemalige Gärtnerin -, sie bringt’s nicht über sich, so einen kaltblütigen Mord. Es ist gegen ihren Glauben.
    »Gar nicht übel«, sagt der Bärtige und hebt einen Bratenspieß aus der Glut. »Lass uns morgen noch so ’n kleinen Kerl schießen.«
    »Kriegt sie auch was ab?«, sagt der Kurzhaarige. Er leckt sich die Finger.
    »Gib ihr was von deinem«, sagt der Bärtige. »Nützt uns nichts, wenn sie tot ist.«
    »Mir nicht«, sagt der Kurzhaarige. »Du würdest doch sogar ’ne Leiche knallen, pervers, wie du bist.«
    »Übrigens, du darfst heute zuerst. Öl mal die Maschine. Ich hasse ’nen trockenen Fick.«
    »Ich war gestern zuerst.«
    »Also ’ne Runde Armdrücken?«
    Auf einmal steht eine vierte Person auf der Lichtung − ein nackter Mann, aber keiner von den grünäugigen Schönheiten. Dieser ist abgemagert und vernarbt. Er hat einen langen zotteligen Bart und sieht extrem verrückt aus. Aber ich kenne ihn. Oder meine ihn zu kennen. Ist es etwa Jimmy?
    Er trägt ein Spraygewehr, und er zielt damit auf die beiden Männer. Er will sie erschießen. Sein irrer Blick sagt alles.
    Aber er wird dabei auch Amanda erschießen, denn der Bärtige sieht ihn, rappelt sich hastig auf und zieht Amanda vor sich, den Arm um ihren Hals. Der Kurzhaarige duckt sich hinter ihn. Jimmy zögert, aber ohne das Spraygewehr sinken zu lassen.
    »Jimmy!«, schreie ich vom Gebüsch aus. »Nicht schießen! Das ist Amanda!«
    Er denkt bestimmt, die Büsche haben angefangen zu sprechen. Er wendet das Gesicht. Ich komme hinter dem Laub hervor.
    »Super! Das andere Flittchen«, sagt der Bärtige. »Dann haben wir ja jetzt jeder eine!« Er grinst. Aus der Hocke greift der Kurzhaarige nach dem Spraygewehr.
    Toby tritt auf die Lichtung. Sie hat das Gewehr im Anschlag. »Finger weg«, sagt sie zum Kurzhaarigen. Ihre Stimme ist fest und klar, aber total flach. Sie muss sich für ihn sehr unheimlich anhören und auch unheimlich aussehen − mager, verlottert, die Zähne gebleckt. Wie eine Todesfee aus dem Fernsehen, wie ein wandelndes Skelett; wie jemand, der nichts mehr zu verlieren hat.
    Der Kurzhaarige bleibt wie angewurzelt stehen. Der andere, der Amanda festhält, weiß nicht, in welche Richtung er sich drehen soll: Jimmy steht vor ihm, aber ein Stück abseits steht Toby. »Keine Bewegung. Ich brech ihr sonst das Genick«, sagt er zu uns allen. Seine Stimme ist sehr laut. Das heißt, er hat Angst.
    »Mich stört das vielleicht, aber ihn nicht«, sagt Toby, womit sie Jimmy meint. Zu mir sagt sie: »Hol das Spraygewehr. Pass auf, dass er dich nicht packt.« Und zu dem Kurzhaarigen: »Auf den Boden.« Und zu mir: »Pass auf deine Fußgelenke auf.« Und zu dem Bärtigen: »Lass sie los.«
    Das alles geht sehr schnell, aber gleichzeitig passiert alles wie in Zeitlupe. Die Stimmen kommen von weit weg; die Sonne ist so grell, dass sie mir in den Augen brennt; das Licht knistert auf unseren Gesichtern; wir funkeln und glitzern, als würden wir in Strom baden. Ich kann fast in die Leute reinsehen − in alle, wie sie da stehen. Ich sehe die Adern, die Sehnen, das Blut, wie es fließt. Ich höre ihre Herzen wie ein Donnergrollen, das immer näher rückt.
    Ich hab das Gefühl, ich falle gleich in Ohnmacht. Aber das darf ich nicht, denn ich muss ja Toby helfen. Ich weiß nicht genau, wie, aber ich laufe zu ihnen rüber. Sie sind so nahe, dass ich sie riechen kann. Ranziger Schweiß, fettige Haare. Ich schnappe mir das Spraygewehr vom Boden.
    »Lauf hinter ihn«, sagt Toby zu mir. Und zu dem Painballer: »Hände an den Hinterkopf.« Und zu mir: »Schieß ihm in den Rücken, wenn du nicht sofort die Hände siehst.«
    Sie sagt das, als könnte ich mit dem Ding umgehen. Zu Jimmy sagt sie: »Ganz ruhig«, wie zu einem großen verängstigten Tier.
    Die ganze Zeit über hatte sich Amanda nicht gerührt,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher