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Die Ankunft

Die Ankunft

Titel: Die Ankunft
Autoren: Dirk van Den Boom
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    »Schön, dass du gehst.«
Die Worte waren kaum falsch zu verstehen. Die Kälte in Karls Stimme untermauerte den Sinn zusätzlich. Rheinberg beschloss, diese Art von Abschiedsgruß nicht zu erwidern.
Als er das Haus verließ und auf den Bürgersteig trat, spürte er die Blicke in seinem Rücken.
Das Augenpaar von Helga, seiner Schwester, mit der Mischung aus Trauer und Trotz, die ihn bereits den ganzen gestrigen Tag begleitet hatte. Das Augenpaar ihres Mannes Karl, klar gefüllt mit Hass und Verachtung.
Auch das war gestern so gewesen, trotz der dünnen Schale an Höflichkeit, mit der Karl seinen Schwager in seinem kleinen Backsteinhaus in der Werftstraße empfangen hatte. Die Schale war schnell gesprungen, die Risse hatten sich verbreitert, und am Nachmittag, nach einem faden und zerkochten Mittagessen aus Kartoffeln und Fisch, war sie endgültig zerbrochen. Karl hatte wieder mit seinen Monologen begonnen und sich wie stets schnell hineingesteigert.
Das Ausbeutersystem, so wiederholte er wieder und wieder, und der Kapitalismus. Der Feudalismus im Denken und die Verdorbenheit der Monarchie. Freiheit für jene, Vergeltung für dieses – und dann natürlich sein größtes Feindbild: die Lieblinge des Kaisers, die Seeoffiziere. Karl wusste, wovon er sprach, oder zumindest nahm er es an. Er war seit sechs Jahren Werftarbeiter in Wilhelmshaven, und hier gab es ausschließlich Werften, die für die kaiserliche Flotte arbeiteten, die seit dem 2. Flottengesetz unentwegt in Tag-und Nachtschichten die Waffe erschufen, die Seine Allerhöchste Majestät in Auftrag zu geben beliebt hatte. Karl verdiente jede Mark mit seiner Arbeit für das Ausbeutersystem, für das er nur Hass zu empfinden schien, und das musste ihn doppelt und dreifach frustrieren. Als er dann seine Pamphlete hervorholte – Veröffentlichungen der sozialdemokratischen Druckerpressen, mit wehenden Fahnen und Bildern ihrer Führer und Idole, allen voran: Marx, Engels, Lassalle und wie sie noch hießen –, war Korvettenkapitän Jan Rheinberg der Geduldsfaden gerissen.
Helga hatte als Einzige bemerkt, wie es in ihm zu kochen begonnen hatte. Kein Wunder, sie war seine Schwester und gleichzeitig das schwarze Schaf der Familie, mit 18 ausgerissen von zu Hause und verheiratet mit einem Revoluzzer, einem einfachen Arbeiter, einem unsicheren Gesellen. Sein Vater hatte sie seitdem nicht mehr gekannt, der alte, unbeugsame, stocksteife Schuldirektor und Kavallerieoffizier a. D. Lediglich die Mutter schickte ihr hin und wieder Briefe, oft mit Geld, denn daran mangelte es ständig. Selbst während der ersten acht Jahre von Jans Karriere, als seine Eltern ihn noch bezuschussen mussten und Tausende in seine Ausbildung zu stecken hatten, ehe er endlich zum Oberleutnant befördert worden war und so etwas wie finanzielle Unabhängigkeit erreicht hatte, waren die Briefe gekommen. Genauso jene Bitten seiner Mutter, sich um die Helga zu kümmern.
Jan besuchte sie daher mindestens einmal im Jahr – seit seiner Versetzung nach Wilhelmshaven vor sechs Monaten einmal im Monat, zum höchsten Missfallen ihres Mannes. Jan selbst hatte an diesen Besuchen keine Freude, dennoch erfüllte er seine Pflicht. So, wie er es immer getan hatte, auch dann, als sein Vater ihm eröffnet hatte, dass er seinen einzigen Sohn auf die Seekadettenschule zu entsenden gedachte, da sein Stand zum gewünschten Nachwuchs für das stetig expandierende Offizierskorps gehörte. Das Seeoffizierskorps, der Augapfel Seiner Allerhöchsten Majestät, und damit eine sichere Karriere für einen fleißigen jungen Mann, der gerade das Abitur mit höchsten Auszeichnungen bestanden hatte und eigentlich lieber …
Aber das Eigentliche war, was der Vater verlangte.
Jan hatte seine Pflicht erfüllt. Und als er nun an diesem kühlen Oktobermorgen, es war ein Sonntag, das Haus seines revolutionären Schwagers verließ, erinnerte er sich an die schneidende Kälte in seiner Stimme, mit der er am gestrigen Abend Karl zurechtgewiesen hatte. Seine Worte waren Ehre und Verpflichtung gewesen, Vaterland und Treue sowie die Sinnhaftigkeit von Allerhöchster Autorität, ohne die ein Staatswesen in genau die Anarchie und Beliebigkeit zerfallen würde, die Karl mit den Seinen doch wohl anstrebe. Er hatte sich gehen lassen, war eigentlich gar kein so fanatischer Verfechter der Monarchie – oder, um genauer zu sein, des aktuellen Monarchen. Dennoch: Korvettenkapitän Rheinberg hatte eine gute Exerzierstimme, er hatte sie in Mürwik zur
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