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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut
Autoren: Margaret Atwood
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Zeug einen Kosmos basteln. Wir beklebten ihn mit Glitzerstoff und hängten ihn an einer Schnur auf. Das Festmahl an dem Abend bestand aus runden Nahrungsmitteln wie Radieschen und Kürbissen, und der ganze Garten war mit unseren leuchtenden Welten geschmückt. Es gab mal ein Jahr, da waren die Kosmoskugeln alle aus Draht, und in der Mitte brannten Kerzenstümpfe: Das war total hübsch. In einem anderen Jahr wollten wir die Hände Gottes dazubasteln, die die Kosmosbälle festhalten, aber die gelben Gummihandschuhe, die wir dafür fanden, sahen sehr seltsam aus, wie Zombiehände. Gott stellt man sich nun mal nicht mit Handschuhen vor.
    Wir sitzen um das Lagerfeuer herum − Toby, Amanda und ich. Und die beiden goldenen Painballer, die auch. Das Licht flackert auf unseren Gesichtern und lässt uns weicher und schöner aussehen, als wir’s in Wirklichkeit sind. Aber manchmal lässt es uns auch dunkler und unheimlicher wirken, wenn sich die Gesichter aus dem Licht drehen und die Augen nicht zu sehen sind, nur die Augenhöhlen. Tiefschwarze Tümpel quellen aus unseren Köpfen.
    Mir tut alles weh, aber gleichzeitig bin ich wahnsinnig froh. Ich glaube, wir haben großes Glück. Dass wir hier sind. Wir alle, sogar die Painballer.
    *
    Nach der Mittagshitze und dem Gewitter bin ich an den Strand gelaufen, um unsere Rucksäcke zu holen und sie zur Lichtung zurückzubringen, zusammen mit etwas wildem Sareptasenf, den ich unterwegs gepflückt habe. Toby holte ihren Kochtopf hervor, die Tassen, ihr Messer und den großen Löffel. Dann kochte sie aus den Wakunkresten, Rebeccas Fleisch und ein paar Trockenkräutern eine Suppe. Als sie die Wakunkknochen in den Topf legte, sprach sie die Worte der Entschuldigung und bat den Wakunk um Vergebung.
    »Aber du hast ihn doch gar nicht getötet«, sagte ich.
    »Das stimmt«, sagte sie. »Aber es muss trotzdem sein, sonst hätte ich ein schlechtes Gewissen.«
    Die Painballer sind in der Nähe mit dem Seil und ein paar geflochtenen Stoffstreifen von Tobys einstmals rosafarbenem UV-Mantel an einen Baum gefesselt: Wenn man bei den Gärtnern was gelernt hat, dann die Wiederverwendung von Recyclingmaterial.
    Die Painballer reden nicht viel. Sie fühlen sich bestimmt nicht so toll, nachdem Amanda sie fertiggemacht hat. Sie kommen sich bestimmt auch ganz schön blöd vor. Käme ich mir jedenfalls an ihrer Stelle. Dumm wie eine Kiste mit Haaren − wie Zeb sagen würde dass sie sich so haben überwältigen lassen.
    Amanda steht wohl noch unter Schock. Immer wieder fängt sie leise an zu weinen und zwirbelt dabei ihre strähnigen Haarspitzen zwischen den Fingern. Als die Painballer gefesselt waren, hat sie von Toby gleich eine Tasse warmes Wasser mit Honig und etwas Weißem Gänsefußpulver bekommen, gegen Dehydrierung.
    »Nicht alles auf einmal trinken«, sagte sie. »Schluck für Schluck.« Sobald Amanda wieder genügend Elektrolyte im Körper hat, hat Toby gesagt, wird sie sich um alles andere kümmern, was bei Amanda repariert werden muss. Also erst mal die Schnittwunden und Blutergüsse.
    Jimmy geht es nicht gut. Er hat hohes Fieber und eine eiternde Wunde am Fuß. Toby sagt, wenn wir’s schaffen, ihn zum Lehmhaus zurückzubringen, kann sie die Maden nehmen − das wäre das Beste auf längere Sicht. Aber Jimmy hat vielleicht keine längere Sicht.
    Zuvor hat sie ihm Honig auf die Wunde geschmiert und ihm auch einen Löffel Honig zu essen gegeben. Weide oder Schlafmohn kann sie ihm noch nicht geben, denn das alles hat sie im Lehmhaus gelassen. Wir wickeln ihn in Tobys UV-Mantel, aber er befreit sich immer wieder. »Wir müssen irgendeine Art Laken für ihn auftreiben«, sagt Toby. »Für morgen. Und ihn irgendwie dazu bringen, es anzubehalten, er geht sonst ein in der Sonne.«
    Jimmy erkennt mich überhaupt nicht, und Amanda erkennt er auch nicht. Er redet die ganze Zeit mit irgendeiner anderen Frau, die er am Feuer stehen sieht. »Eulenmusik. Nicht wegfliegen«, sagt er zu ihr. Es liegt wahnsinning viel Sehnsucht in seiner Stimme. Ich bin eifersüchtig, aber wie kann man eifersüchtig sein auf eine Frau, die es gar nicht gibt?
    »Mit wem redest du?«, frage ich ihn.
    »Da ist eine Eule«, sagt er. »Sie ruft. Gleich da oben.« Aber ich höre keine Eule.
    »Schau mich an, Jimmy«, sage ich.
    »Die Musik ist in uns eingebaut«, sagt er. »Egal, was passiert.« Er blickt hinauf in die Bäume.
    Ach, Jimmy, denke ich. Wo bist du?
    *
    Der Mond ist nach Westen gezogen. Toby sagt, die Knochensuppe hat
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