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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut
Autoren: Margaret Atwood
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romantischen Liebe eliminieren. Jetzt sollten wir sehr leise sein.«
    Die Qualen der romantischen Liebe, denke ich. Was Toby wohl darüber weiß?
    *
    Vor der Küste steht eine Reihe verlassener Hochhäuser: Die kenne ich noch von unseren Gärtnerausflügen zum Strand. Früher war das alles trockenes Land, bis der Meeresspiegel so wahnsinnig anstieg und die Wirbelstürme anfingen: Das hatten wir in der Schule gelernt. Möwen kreisen in der Luft und lassen sich auf den flachen Dächern nieder.
    Da könnten wir uns Eier holen. Und Fische. Notfalls mithilfe von Licht, wie wir es bei Zeb gelernt haben. Zündet euch eine Fackel an, die Fische schwimmen auf das Licht zu. Im Sand sind Krabbenlöcher, sehr kleine. Weiter oben am Strand wachsen Nesseln. Auch Algen sind essbar. Alles an Sankt Euell gelernt.
    Ich wünsche mir schon wieder was: Ich plane unser Mittagessen, obwohl mir die blanke Angst im Nacken sitzt. Das schaffen wir nie. Wir werden Amanda niemals zurückkriegen. Sie werden uns umbringen.
    Toby hat im nassen Sand Spuren entdeckt − mehrere Personen in Schuhen oder Stiefeln, und da ist die Stelle, wo sie die Schuhe ausgezogen haben, vielleicht um sich die Füße zu waschen, und das sind die Stellen, wo sie sich die Schuhe wieder angezogen haben und hoch in den Wald gegangen sind.
    Sie könnten in diesem Moment im Schutz der Bäume stehen und uns beobachten. Sie könnten auf uns zielen.
    Über diesen Spuren ist noch eine andere Spur. Barfuß. »Da hat jemand gehinkt«, flüstert Toby, und ich denke, das war bestimmt Schneemensch. Der Verrückte, der auf einem Baum wohnt.
    Wir nehmen unsere Rucksäcke ab und lassen sie dort liegen, wo der Sand aufhört und das Gras und das Unkraut anfangen, unter der ersten Baumreihe. Toby sagt, wir brauchten keine zusätzliche Last: Wir müssen unsere Arme frei bewegen können.
     
    75.
Toby. Sankt Terry und Allerreisenden, Jahr Fünfundzwanzig
     
    So, lieber Gott, denkt Toby. Wie siehst Du die Sache? Vorausgesetzt, es gibt Dich überhaupt. Jetzt sag’s mir bitte, denn das könnte unser Ende sein: Wenn wir erst mal mit den Painballern aneinandergeraten, haben wir nicht die geringste Chance, so sehe ich die Sache jedenfalls.
    Ist das neue verbesserte Menschenmodell nach Deinem Geschmack? Sollte so der erste Adam aussehen? Werden sie uns ersetzen? Oder wirst Du mit den Achseln zucken und mit der Menschheit, wie sie jetzt ist, weitermachen? Wenn ja, hast Du Dir dafür ein paar schräge Vögel ausgesucht: einen Haufen ehemalige Wissenschaftler, eine Handvoll abtrünniger Gärtner, zwei umherirrende Psychotiker mit einer halbtoten Frau. Wohl kaum das, was man das Überleben des Stärkeren nennt, abgesehen von Zeb; aber selbst der ist müde.
    Und Ren. Hättest du dir nicht jemand aussuchen können, der etwas weniger zerbrechlich ist? Weniger unschuldig? Etwas zäher? Wäre sie ein Tier, was wäre sie? Eine Maus? Eine Drossel? Ein Reh im Scheinwerferlicht? Im entscheidenden Moment wird sie nicht zu gebrauchen sein: Ich hätte sie da hinten am Strand zurücklassen sollen. Aber das würde das Unvermeidliche nur in die Länge ziehen, denn wenn ich draufgehe, geht auch sie drauf. Selbst wenn sie wegliefe, würde sie sich verirren. Und wer soll sie dann vor den Hunden und Schweinen beschützen im finsteren Wald? Die blauen Leutchen da werden’s jedenfalls nicht tun. Nicht, solange die Painballer ein funktionstüchtiges Spraygewehr haben. Umso schlimmer für sie, wenn sie nicht sofort stirbt.
    Die moralische Klaviatur des Menschen ist begrenzt, sagte Adam Eins immer. Man kann nichts darauf spielen, was nicht schon gespielt wurde. Und, meine lieben Freunde, so ungern ich es sage, aber es hat durchaus auch tiefe Töne.
    Sie bleibt stehen, kontrolliert das Gewehr. Entsichert es.
    *
    Linker Fuß, rechter Fuß, leise weiter. Ihre schwachen Schritte auf dem Laub am Boden dröhnen in den Ohren wie Schreie. Wie gut ich zu sehen bin, wie gut ich zu hören bin, denkt sie. Der ganze Wald schaut zu. Sie warten auf Blut, sie riechen es, sie hören, wie es durch meine Adern läuft, katusch. Über ihrem Kopf, in den Baumwipfeln, da hocken sie, die trügerischen Krähen: Hahaha! Sie wollen ihr die Augen auspicken, diese Krähen.
    Und doch, jede Blume, jeder Zweig, jeder Kieselstein: Alles glänzt, als würde es von innen heraus leuchten wie damals an ihrem ersten Tag bei den Gärtnern. Es ist der Stress, Adrenalin, ein chemischer Effekt: Sie weiß das sehr wohl. Aber warum ist das beim Menschen so?, denkt
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