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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut
Autoren: Margaret Atwood
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Geräusche zu hören: das ferne Bellen der Hunde, das Kichern der Mäuse, die Wasserpfeifentöne der Grillen, hier und da das Grumpfen eines Frosches. Das Blut, das in ihren Ohren rauscht: katusch, katusch, katusch. Ein schwerer Besen, der trockenes Laub aufkehrt.
    »Leg dich schlafen«, sagt sie laut. Aber sie schläft nicht mehr gut, seit sie in diesem Gebäude allein ist. Manchmal hört sie Stimmen − gequälte menschliche Stimmen, die ihr etwas zurufen. Oder die Stimmen von Frauen, der Frauen, die hier gearbeitet haben, der geplagten Frauen, die zur Erholung und Verjüngung hierherkamen. Die im Swimmingpool plantschten, über die Rasenflächen spazierten. Die vielen rosa Stimmen, getröstet und tröstend.
    Oder die Stimmen der Gärtner, ihr Murmeln oder ihren Gesang; oder die der Kinder, lachend, hoch oben auf dem Felsen Eden. Adam Eins und Nuala und Burt. Die alte Pilar inmitten ihrer
    Bienen. Und Zeb. Wenn einer von ihnen noch am Leben ist, dann Zeb; er könnte jeden Tag die Straße entlangkommen oder hinter den Bäumen auftauchen.
    Aber er ist bestimmt längst tot. Es ist besser, so zu denken. Keine Hoffnung zu verschwenden.
    Es muss aber doch jemand überlebt haben; sie kann doch nicht der letzte Mensch auf Erden sein. Es muss doch noch andere geben. Aber sind sie freundlich oder feindlich gesinnt? Wenn sie jemanden sieht, wie soll sie es wissen?
    Sie ist bereit. Die Türen sind verschlossen, die Fenster verriegelt. Obwohl solche Barrieren keine Garantie sind: Jeder Hohlraum schreit nach Invasion.
    Sogar im Schlaf lauscht sie wie ein Tier − nach einer Störung im üblichen Muster, einem unbekannten Geräusch, nach einer Stille, die aufbricht wie ein Felsspalt.
    Wenn die kleinen Tiere mitten im Lied verstummen, sagte Adam Eins, haben sie Angst. Ihr müsst nach ihrer Angst lauschen.
     
    2.
Ren. Jahr Fünfundzwanzig, das Jahr der Flut
     
    Hütet euch vor dem Wort. Hütet euch vor der Schrift. Hinterlasst keine Spuren.
    Das brachten uns die Gärtner bei, als ich ein Kind dort war. Wir sollten uns auf unser Gedächtnis verlassen, denn was man aufschrieb, war nicht verlässlich. Der Geist wandert von Mund zu Mund, nicht von Ding zu Ding: Bücher konnten verbrannt werden, Papier konnte zerfallen, Computer konnten zerstört werden. Nur der Geist lebt ewig, und der Geist ist kein Ding.
    Schreiben, sagten die Adams und Evas, war gefährlich, weil man von seinen Feinden rückverfolgt, aufgespürt und mit seinen eigenen Worten gerichtet werden konnte.
    Aber jetzt, wo die wasserlose Flut über uns gekommen ist, wird wohl alles, was ich aufschreibe, sicher genug sein, denn alle, die es gegen mich verwenden könnten, sind höchstwahrscheinlich tot. Ich kann also aufschreiben, was ich will.
    Was ich schreibe, ist mein Name,
Ren
, mit einem Augenbrauenstift an die Wand neben den Spiegel. Ich habe ihn schon ganz oft geschrieben.
Renrenren
, wie ein Lied. Wenn man zu lange allein ist, vergisst man schnell, wer man ist. Das hat Amanda mal gesagt. Ich kann nicht aus dem Fenster sehen, es sind Glasbausteine. Ich kann nicht aus der Tür, sie ist von außen verschlossen. Aber ich habe Luft und Wasser, solange die Solaranlage nicht ausfällt. Ich habe immer noch was zu essen.
    Ich habe Glück. Ich habe wirklich sehr viel Glück. Da kannst du von Glück reden, sagte Amanda immer. Also, ich tu’s. Erstens hatte ich Glück, dass ich hier im Scales war und arbeiten musste, als die Flut kam. Zweitens hatte ich noch mehr Glück, dass ich gerade in der Klebezone saß, hier war ich nämlich in Sicherheit. Ich hatte einen Riss in meinem Bio-Körperstrumpf − ein Kunde hatte sich gehen lassen und mich durch die grünen Pailletten hindurch gebissen −, und ich musste auf meine Testergebnisse warten. Es war keine nässende, offene Wunde, nur eine Art Schramme am Ellenbogen, also hatte ich eigentlich keinen Grund zur Sorge. Trotzdem wurde hier im Scales immer alles geprüft. Wir hatten einen Ruf zu verteidigen: Wir waren in der ganzen Stadt bekannt als die saubersten Mädchen mit der schmutzigsten Fantasie.
    Im Scales and Tails war man wirklich gut aufgehoben. Vorausgesetzt, man hatte Talent. Gutes Essen, ärztliche Versorgung, wann immer nötig, und das Trinkgeld war super, weil die höchsten Konzernleute hierherkamen. Der Laden war straff organisiert, obwohl er in so einer zwielichtigen Gegend lag − aber alle Nachtclubs lagen in dieser Gegend. Es war eine Imagefrage, würde Mordis sagen: Zwielichtig war gut fürs Geschäft, denn ohne
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