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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut
Autoren: Margaret Atwood
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mächtig in Verwirrung gestürzt! Aber müssen wir deshalb die Erschaffung der Welt in sechs Tagen als wissenschaftliche Tatsache hinnehmen und empirische Daten somit zum Nonsens erklären? Gott kann weder für die Borniertheit wörtlicher und materialistischer Deutungen herhalten, noch kann Er mit menschlichem Maß gemessen werden, denn Seine Tage sind Äonen, und tausend Epochen unserer Zeit sind für Ihn ein einziger Abend. Anders als in manch anderen Religionen haben wir nie das Gefühl gehabt, dass es einer höheren Sache dient, wenn wir unseren Kindern geologische Lügen auftischen.
    Denkt an die ersten Sätze jenes menschlichen Wort Gottes: Die Erde ist formlos und wüst, und dann spricht Gott, es werde Licht. Dies ist der Moment, den Wissenschaftler als »Urknall« bezeichnen, als handle es sich um eine Sexorgie. Und doch stimmen beide Ausführungen im Wesentlichen miteinander überein: Dunkelheit, und dann, mit einem Mal, Licht. Aber gewiss ist die Schöpfung ein fortdauernder Prozess, denn werden nicht in jedem Augenblick neue Sterne gebildet? Gottes Tage folgen nicht aufeinander, meine Freunde; sie laufen nebeneinanderher, der erste mit dem dritten, der vierte mit dem sechsten. Wie wir wissen, brachten die Gewässer am fünften Tag von Gottes Schöpfungsakt Lebewesen hervor, und am sechsten Tag war das trockene Land von Tieren bevölkert und von Pflanzen und Bäumen; und alle waren gesegnet und sollten sich mehren; und schließlich wurde Adam − das heißt die Menschheit − geschaffen. Wissenschaftlich betrachtet, sind die Tierarten tatsächlich in dieser Reihenfolge auf dem Planeten aufgetreten und ganz zum Schluss der Mensch. Zumindest mehr oder weniger in dieser Reihenfolge. Oder so gut wie.
    Was geschieht danach? Gott bringt die Tiere vor den Menschen, »dass er sähe, wie er sie nennte«. Warum wusste Gott nicht schon vorher, welche Namen Adam wählen würde? Die Antwort kann nur sein, dass Er Adam den freien Willen gab, daher kann Adam Dinge tun, die nicht einmal Gott selbst vorhersagen kann. Denkt daran, wenn ihr beim nächsten Mal von Fleischessen oder materiellem Wohlstand in Versuchung geführt werdet! Womöglich weiß nicht einmal Gott jedes Mal, was ihr als Nächstes tun werdet!
    Gott muss die Versammlung der Tiere einberufen haben, indem Er direkt zu ihnen sprach, aber in welcher Sprache? Es war nicht Hebräisch, nicht Arabisch, nicht Chinesisch. Nein: Er rief die Tiere in ihrer jeweils eigenen Sprache. Mit dem Rentier sprach Er Rentier, mit der Spinne Spinne, mit dem Elefanten sprach Er Elefant, mit dem Floh sprach Er Floh, mit dem Tausendfüßler sprach Er Tausendfüßler und mit der Ameise Ameise. So muss es gewesen sein.
    Und für Adam selbst waren die Namen der Tiere die ersten Worte, die er sprach − der erste Augenblick der menschlichen Sprache. In diesem kosmischen Augenblick nimmt Adam seine menschliche Seele an. Das Benennen ist − so hoffen wir − wie ein Gruß; eine Umarmung. Stellen wir uns vor, wie Adam, von Zuneigung und Freude erfüllt, die Namen der Tiere ausrief −
Da seid ihr, meine Liebs
ten! Willkommen!
Adams erster Akt gegenüber den Tieren war also ein Akt der Güte und Brüderlichkeit, denn der Mensch im Zustand der Unschuld war noch kein Fleischfresser. Die Tiere wussten das, und sie liefen nicht fort. So muss es an diesem einzigartigen Tag gewesen sein − eine friedliche Versammlung, bei der jedes lebende Wesen auf der Erde vom Menschen angenommen wurde.
    Wie viel haben wir verloren, liebe Mitsäugetiere und Mitsterbliche! Wie viel haben wir mutwillig zerstört! Wie viel müssen wir wiederherstellen, in uns selbst!
    Die Zeit der Namensgebung ist nicht vorbei, meine Freunde. Aus Seiner Sicht leben wir vielleicht noch immer am sechsten Tag. Zur Meditation stellt euch vor, in diesem schützenden Augenblick gewiegt zu werden. Streckt die Hand aus nach diesen sanftmütigen Augen, die euch so viel Vertrauen entgegenbringen − ein Vertrauen, das noch unberührt ist von Mord, Völlerei, Stolz und Verachtung.
    Sagt ihre Namen.
    Lasst uns singen.
     
    ALS ADAM EINST
     
    Als Adam einst erschaffen ward
    In jenem goldenen Licht,
    Lebt’ friedlich mit den Tieren er
    In Gottes Angesicht.
     
    Der Mensch erhielt die Sprache und
    Gab jedem Tier den Namen;
    Gott rief sie zur Gemeinschaft auf,
    Worauf sie furchtlos kamen.
     
    So sangen, schwebten, tollten sie
    In ausgelassener Runde,
    Lobpreisten Gottes Schöpfung
    Jener allerersten Stunde.
     
    Wie kümmerlich und winzig
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