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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut
Autoren: Margaret Atwood
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Ecken und Kanten − was Dreckiges oder Kitschiges, leicht Runtergekommenes − würde sich unser Produkt ja durch nichts von der Nullachtfünfzehn-Ware unterscheiden, die die Typen auch zu Hause kriegen konnten, mit der Nachtcreme und den weißen Baumwollschlüpfern.
    Mordis war ein Mann der klaren Ansagen. Er war seit Kindesbeinen im Betrieb, und als Zuhälterei und der Straßenstrich verboten wurden − wegen der öffentlichen Gesundheit und zum Schutz der Frauen, wie es hieß, und alles zum SeksMart zusammengefasst wurde und unter CorpSeCorps-Kontrolle kam −, wagte Mordis wegen seiner Erfahrung den Sprung. »Man muss nur die richtigen Leute kennen«, sagte er immer. »Und Bescheid wissen über sie.« Dann grinste er und gab einem einen Klaps auf den Po − aber nur einen freundlichen Klaps, er nahm sich keine Freiheiten bei uns raus. Der hatte Anstand.
    Er war drahtig, kahlrasiert und hatte schwarz glänzende, hellwache Augen wie ein Ameisenkopf, und er war sehr umgänglich, solange alles glattlief. Aber wenn die Kunden handgreiflich wurden, ging er dazwischen. »Meine Mädchen rührt keiner an«, sagte er immer. Das war für ihn Ehrensache.
    Außerdem war er gegen Verschwendung: Wir seien doch sein Kapital, sagte er immer. Das Sahnehäubchen. Als alles von SeksMart geschluckt wurde, war jeder, der bei dem System außen vor blieb, nicht nur illegal, sondern total arm dran. Ein paar kranke alte Wracks, die fast schon bettelnd durch die Gassen zogen. Kein Mann mit einem Rest Hirn im Kopf hätte sich ihnen auch nur auf zehn Meter genähert. »Sondermüll«, sagten wir Scales-Mädchen immer. Wir hätten nicht so überheblich sein dürfen; wir hätten Mitleid haben sollen. Aber Mitleid ist anstrengend, und wir waren jung.
    *
    In der Nacht, als die wasserlose Flut begann, wartete ich auf meine Testergebnisse: Man wurde wochenlang in die Klebezone gesperrt, falls man was Ansteckendes hatte. Das Essen kam durch die Sicherheitsluke, es gab eine Minibar mit Knabberzeug, und das Wasser wurde gefiltert, sowohl was reinkam als auch was rausging. Man hatte alles, was man brauchte, aber es wurde einem langweilig da drin. Man konnte an den Geräten trainieren, das machte ich auch oft, denn als Trapeztänzerin muss man in Übung bleiben.
    Man konnte fernsehen oder sich alte Filme angucken, Musik hören, telefonieren. Oder über die Videosprechanlage in andere Räume reinschalten. Wenn wir einen Kunden hatten, zwinkerten wir manchmal extra für das Mädchen in der Klebezone beim Stöhnen in die Kamera. Wir wussten, wo die Kameras versteckt waren, in der Schlangenhaut und in den Federn an der Zimmerdecke. Im Scales waren wir eine große Familie, also selbst wenn man in der Klebezone saß, wollte einem Mordis das Gefühl geben, dass man trotzdem live dabei war.
    Bei Mordis fühlte ich mich wahnsinnig geborgen. Ich wusste, dass ich sogar mit ganz großem Ärger zu ihm gehen konnte. Solche Leute gab es nicht oft in meinem Leben. Amanda, meistens. Zeb, manchmal. Und Toby. Würde man gar nicht meinen, bei Toby − knallhart, wie sie immer war −, aber wenn man kurz vorm Ertrinken ist, will man sich nicht an etwas Weichem, Matschigem festhalten. Da braucht man schon was Festes.

SCHÖPFUNGSTAG

Jahr Fünf
     
    Von der Schöpfung und wie die Tiere zu ihrem Namen kamen
    Gesprochen von Adam Eins
     
    Liebe Freunde, liebe Mitgeschöpfe, liebe Mitsäugetiere:
    Am Schöpfungstag vor fünf Jahren war unser Dachgarten Felsen Eden noch ein schwelendes wüstes Land inmitten der schwärenden Slums und Lasterhöhlen der Stadt; nun aber ist er erblüht wie eine Rose.
    Indem wir öde Häuserdächer wie dieses begrünen, leisten wir unseren kleinen Beitrag, um Gottes Geschöpfe vor dem Verfall und der ringsum grassierenden Unfruchtbarkeit zu retten, und ganz nebenbei versorgen wir uns selbst mit giftfreien Nahrungsmitteln. Manche mögen unsere Versuche belächeln, aber wenn alle unserem Beispiel folgen würden, was käme da nicht für ein Wandel über unseren geliebten Planeten! Es liegt noch viel harte Arbeit vor uns, aber fürchtet euch nicht, liebe Freunde: Guten Mutes schreiten wir voran.
    Ich freue mich, dass wir alle an unsere Sonnenhüte gedacht haben.
    *
    Nun wollen wir uns der Andacht anlässlich unseres alljährlichen Schöpfungstages zuwenden.
    Das menschliche Wort Gottes spricht auf eine Weise von der Schöpfung, die für die Alten noch nachvollziehbar war. Von Genen und Galaxien ist noch keine Rede, denn solche Begriffe hätten sie
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