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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut
Autoren: Margaret Atwood
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versuchen, sich vor dem Ertrinken zu retten. Sie werden sich an jeden Strohhalm klammern. Nehmt euch in Acht, dass ihr nicht dieser Strohhalm seid, meine Freunde, denn wenn sich jemand an euch klammert, ja euch auch nur berührt, werdet ihr mit ihm ertrinken.
    *
    Toby drehte sich von den Barrikaden weg − sie würde einen Umweg machen müssen. Sie hielt sich in der Dunkelheit, bewegte sich geduckt im Schutz der Blätter am Parkrand entlang. Jetzt hatte sie den offenen Platz erreicht, wo die Gärtner immer ihren Markt abgehalten hatten, und das Lehmhaus, wo die Kinder immer spielten. Sie versteckte sich dahinter, wartete auf irgendeine Ablenkung. Und tatsächlich krachte es kurz darauf, etwas explodierte, und während sich alle danach umdrehten, schlenderte sie hinüber. Nicht rennen, hatte Zeb gelehrt: Wer wegrennt, macht sich zur Beute.
    In den Seitenstraßen wimmelte es von Menschen; sie sprang ihnen aus dem Weg. Sie hatte sich Chirurgenhandschuhe angezogen, eine kugelsichere Weste aus der Seide einer transgenen Spinnenziege, die sie im Jahr zuvor aus dem AnuYu-Wachhaus geklaut hatte, und einen schwarzen Luftfilter-Nasenhut.
    Aus dem Gartenschuppen hatte sie einen Spaten und ein Brecheisen mitgenommen, die beide bei beherztem Einsatz tödlich sein konnten. In ihrer Tasche befand sich eine Flasche AnuYu-Glanzhaarspray, eine wirksame Waffe, wenn man damit direkt in die Augen zielte. Sie hatte viel über diese Dinge von Zeb gelernt, in seinem Gewaltminimierungs-Unterricht: Zeb war immer der Meinung, dass Gewalt vor allem der eigenen Person gegenüber minimiert werden müsse.
    Sie ging Richtung Nordwesten, durch das vornehme Fernside, dann durch Big Box mit seinen kleineren, schlampig gebauten Häusertrakten, schlüpfte durch die schmalsten Sträßchen, die schlecht beleuchtet und nicht sehr überlaufen waren. Einige Menschen kamen an ihr vorbei, mit dem eigenen Schicksal beschäftigt.
    Zwei Jugendliche blieben stehen, als spielten sie mit dem Gedanken eines Überfalls, aber sie begann zu husten und »Helft mir!« zu krächzen, und die beiden hasteten davon.
    Um Mitternacht herum und nachdem sie ein paarmal falsch abgebogen war − die Straßen in Big Box sahen alle gleich aus −, erreichte sie das ehemalige Haus ihrer Eltern. Es brannte kein Licht, die Garagentür stand offen und die vordere Spiegelglasscheibe war eingeschlagen, also war zu vermuten, dass niemand im Haus war. Die derzeitigen Bewohner waren wohl entweder tot oder woanders. Dasselbe galt für das identische Nebenhaus, hinter dem das Gewehr vergraben war.
    Einen Augenblick stand sie da, sammelte sich, hörte das Blut in ihrem Kopf:
katusch, katusch, katusch.
Entweder war das Gewehr noch da, oder es war weg. Wenn es noch da war, hätte sie ein Gewehr. Wenn es weg war, hätte sie keins. Kein Grund zur Panik.
    Sie öffnete das Gartentor der Nachbarn, heimlich wie ein Dieb. Dunkelheit, nichts rührte sich. Der Duft von Nachtblüten: Lilien, Nicotiana. Dazu Rauch, irgendwo brannte es, wenige Straßenzüge weiter: Sie konnte die Flammen erkennen. Eine Kudzu-Motte streifte ihr Gesicht.
    Sie schob das Brecheisen unter eine der Terrassenfliesen, hebelte, packte den Stein am Rand und warf ihn zur Seite. Und wieder und wieder. Drei Terrassenfliesen. Dann grub sie mit der Schaufel.
    Ein Herzschlag, dann noch einer.
    Es war noch da.
    Nicht weinen, sagte sie zu sich. Schneid die Plastikhülle auf, nimm das Gewehr und die Munition und sieh zu, dass du hier wegkommst.
    *
    Sie brauchte drei Tage für den Rückweg zum AnuYu, schlug einen Bogen um die schlimmsten Krawalle. Auf der Außentreppe waren matschige Fußabdrücke, aber eingebrochen hatte niemand.
     
    6.
     
    Es ist ein primitives Gewehr − eine Ruger Deerfield 44/99. Sie hatte ihrem Vater gehört. Er war es auch, der ihr das Schießen beibrachte, als sie zwölf war, damals in den Tagen, die einem jetzt wie ein knallbunter Pilztrip vorkommen. Immer auf die Mitte des Körpers zielen, hatte er gesagt. Keine Zeit mit dem Kopf verschwenden. Er meinte, so sagte er, nur Tiere.
    Sie wohnten ländlich damals, vor der Zersiedelung. Ihr weißes Holzhaus stand inmitten von zehn Hektar Bäumen, und es gab Eichhörnchen und die ersten grünen Kaninchen. Keine Wakunks, die waren damals noch nicht zusammengesetzt worden. Rehe gab es viele; sie verirrten sich manchmal in den Gemüsegarten ihrer Mutter. Toby hatte das ein oder andere erlegt und beim Ausweiden mitgeholfen; noch heute kann sie sich an den Geruch erinnern und an
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