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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut
Autoren: Margaret Atwood
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Gärtchen unter den Terrassenfliesen.
    Dann hatte er seinen Isolierfenster-Job verloren, weil er sich wegen seiner kranken Frau zu viel frei genommen hatte. Sein Solarauto musste verkauft werden. Danach verschwanden Stück für Stück die Möbel; nicht dass Tobys Vater viel dafür bekommen hätte. Die Leute haben einen Riecher dafür, wenn du verzweifelt bist, sagte er zu Toby. Sie nutzen dich aus.
    Dieses Gespräch fand am Telefon statt, denn Toby hatte es trotz familiären Geldmangels ans College geschafft. Sie erhielt ein mageres Stipendium von der Martha Graham Academy, das sie mit einem Kellnerjob in der Studentencafeteria aufbesserte. Sie wollte nach Hause kommen und ihrem Vater bei der Pflege ihrer Mutter helfen, die aus dem Krankenhaus entlassen worden war und im Erdgeschoss schlief, weil sie keine Treppen steigen konnte, aber ihr Vater war strikt dagegen, sie solle am College bleiben, denn hier gebe es nichts für sie zu tun.
    Schließlich musste sogar das geschmacklose Haus in Big Box zum Verkauf angeboten werden. Das Schild steckte im Rasen, als Toby zur Beerdigung ihrer Mutter nach Hause kam. Ihr Vater war ein menschliches Wrack; Demütigung, Schmerz und Versagen hatten an ihm gezehrt, bis kaum noch etwas von ihm übrig war.
    *
    Die Beerdigung ihrer Mutter war kurz und trostlos. Danach saß Toby mit ihrem Vater in der nackten Küche. Sie leerten zusammen ein Sechserpack, Toby zwei, ihr Vater vier. Nachdem Toby sich schlafen gelegt hatte, ging ihr Vater in die Garage, steckte sich die Ruger in den Mund und zog ab.
    Toby hörte den Schuss. Ihr war sofort klar, was es damit auf sich hatte. Sie hatte das Gewehr hinter der Küchentür stehen sehen: Aus irgendeinem Grund musste er es ja ausgegraben haben, aber sie hatte sich diesen Grund nicht ausmalen wollen.
    Sie war unfähig, sich dem Anblick in der Garage zu stellen. Sie lag im Bett, eilte in Gedanken der Zeit voraus. Was nun? Wenn sie die Behörden anrief − selbst Arzt und Krankenwagen −, würden sie die Einschusswunde finden und das Gewehr verlangen, und Toby wäre in Schwierigkeiten als Tochter eines erwiesenen Gesetzesbrechers − eines Mannes, der im Besitz einer verbotenen Waffe gewesen war. Und das wäre noch das Geringste. Man könnte sie des Mordes bezichtigen.
    Gefühlte Stunden später zwang sie sich zu handeln. In der Garage versuchte sie nicht allzu genau hinzusehen. Sie wickelte die Überreste ihres Vaters in eine Decke, danach in ein paar extra reißfeste Plastikmülltüten, befestigte alles mit Klebeband und vergrub ihn unter den Terrassenfliesen. Sie fühlte sich schrecklich dabei, aber es war eine Sache, für die er Verständnis gehabt hätte. Er war ein praktisch gesinnter Mann gewesen, doch bei alldem sentimental − Elektrowerkzeug im Schuppen, Rosen zum Geburtstag. Wäre er ausschließlich praktisch gesinnt gewesen, dann wäre er mit den Scheidungsunterlagen ins Krankenhaus marschiert wie so viele Männer, deren Frauen etwas Hinderliches und Kostspieliges zustieß. Dann hätte er ihre Mutter auf die Straße werfen lassen. Dann wäre er solvent geblieben. Stattdessen hatte er ihr gesamtes Geld ausgegeben.
    Mit Religion im üblichen Sinne hatte Toby nichts am Hut: genau wie ihre ganze Familie. Sie waren in die Kirche gegangen, weil die Nachbarn in die Kirche gingen und alles andere schlecht fürs Geschäft gewesen wäre, aber sie hatte ihren Vater − im privaten Rahmen und nach einigen Drinks − sagen hören, dass es zu viele Gauner auf der Kanzel und zu viele Tölpel in der Kirchenbank gebe. Dennoch hatte Toby auf der Terrasse ein kurzes Gebet gemurmelt:
Erde zu Erde
. Dann hatte sie den Sand in die Ritzen gefegt.
    Sie hatte das Gewehr wieder in die Plastikhülle gewickelt und unter den Terrassenfliesen des Nebenhauses vergraben, das unbewohnt zu sein schien: Fenster dunkel, kein Auto zu sehen. Vielleicht waren sie zwangsvollstreckt worden. Aufs Nachbargrundstück zu gehen war heikel, aber sie hatte das Risiko auf sich genommen, denn wenn die Leiche ihres Vaters verweste und der Garten umgegraben würde und sie das Gewehr neben ihm vergrub, fände man auch das Gewehr, und das wollte sie nicht. »Man kann nie wissen«, sagte ihr Vater immer, »wann man’s mal gebrauchen kann«, und das war richtig: Man konnte es nie wissen.
    Schon möglich, dass sie beim Graben im Garten von dem ein oder anderen Nachbarn gesehen wurde, aber sie glaubte nicht, dass sie jemand verraten würde. Niemand würde freiwillig den eigenen Garten zum
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