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Das Jagdgewehr

Das Jagdgewehr

Titel: Das Jagdgewehr
Autoren: Yasushi Inoue
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ganz anders war die Liebe zwischen Euch beiden!
    Von dem Augenblick an, als ich Mamas Tagebuch las, verwandelte sich Midori für mich plötzlich in jemand, den ich mehr als irgend einen anderen Menschen auf dieser Welt fürchtete. Mamas heimliches Leid hatte sich nun in mein eigenes verwandelt. Oh, diese Midori, die mich einmal zärtlich mit spitzen Lippen auf meine Wangen geküßt hat! Midori, die ich so liebte, daß es mir schwergefallen wäre zu entscheiden, ob sie oder Mama meinem Herzen näher stand. Niemand anderer als Midori hatte mir einen Schulranzen mit rosa Rosenmustern geschenkt, um meinen ersten Schulgang in Ashiya zu feiern! Und als unsere Klasse in ein Sommerlager nach Yura in der Tango-Landschaft fuhr, gab Midori mir einen großen Schwimmgürtel mit, der wie eine Möve aussah. Als ich im zweiten Schuljahr bei einem Schulfest das Grimmsche Märchen vom Däumling aufsagen sollte, übte Midori vorher fast jeden Abend mit mir und belohnte mich, wenn ich meine Sache gut gemacht hatte. Oh, wie viele solcher Beispiele könnte ich aufzählen! Bei jeder meiner Jugenderinnerungen treffe ich auf Tante Midori. Midori, Mamas Cousine und vertrauteste Freundin! Midori, die früher so gut Mahjong und Golf spielte, prachtvoll schwamm und Ski fuhr, während sie heute nur mehr tanzt. Midori hat mir oft Kuchen gebacken, die größer als mein Gesicht waren. Einmal hat sie mich und Mama sogar mit einer Gruppe junger Takarazuka-Tänzerinnen überrascht! Oh, wie brachte sie es nur fertig, wie eine große, strahlende Rose immer fröhlich in mein und Mamas Leben einzudringen!
    Nur einmal ahnte ich dunkel Mamas und Dein Geheimnis. Es geschah vor einem Jahr. Ich war mit einer Freundin am Morgen zur Schule fortgegangen, und wir befanden uns bereits am Bahnhof, da entdeckte ich plötzlich, daß ich mein englisches Lesebuch vergessen hatte. Ich bat meine Freundin, auf mich zu warten, und rannte nachhause, um es zu holen. Aber als ich vor dem Tor stand, ergriff mich aus irgendeinem Grunde eine mächtige Hemmung hineinzugehen. Das Dienstmädchen war an jenem Morgen zu Besorgungen weggegangen, und so konnte also nur Mama im Hause sein. Und doch war ich tief beunruhigt. Ich fürchtete mich plötzlich. So stand ich also zögernd vor dem Tor und starrte auf das Azaleen-Gebüsch und verzichtete schließlich darauf, das Buch zu holen. Ich rannte zum Bahnhof Shukugawa zurück, wo meine Freundin auf mich wartete. Ich vermochte mir die seltsame Angst selber nicht zu erklären. Ich hatte das Gefühl, daß Mama, falls ich hineinging, in furchtbare Verlegenheit geriete und sie sehr traurig aussehen würde. Verzweifelt lief ich, Kieselsteine vor mir herstoßend, auf dem am Ashiya-Fluß entlangführenden Weg bis zum Bahnhof. Dort angelangt, setzte ich mich auf eine hölzerne Bank im Wartesaal, lehnte mich zurück und hörte nichts von dem, was mir meine Freundin alles erzählte.
    Eine solche unerklärliche Ahnung überkam mich nur dieses eine Mal. Noch nachträglich erfüllt mich tiefes Grauen. Was für furchtbare Dinge gibt es im Leben! Wer weiß denn, ob nicht auch Midori irgendwann einmal die gleiche Vorahnung heimgesucht hat wie mich? Midori, die beim Kartenspielen so stolz darauf war, daß sie die Absichten des Partners messerscharf erspüren konnte! Es ist grauenhaft, darüber auch nur nachzudenken, aber meine Sorge ist ja nun lächerlich und nicht mehr nötig. Heute ist alles vorbei. Das Geheimnis wurde gewahrt. Nein, Mama starb, um ihr Geheimnis zu behalten! Ich bin fest davon überzeugt.
    An jenem Unheilstag, bevor noch Mamas Schmerzen begannen, Schmerzen, die zwar nur kurz währten, aber so grauenvoll waren, daß man sie einfach nicht mitansehen konnte – rief mich Mama und sagte mit einer wunderlich glatten Miene, die wie die einer Puppe im Bunraku-Theater aussah: »Ich habe eben Gift genommen. Ich bin es müde. Zu müde, noch länger zu leben.«
    Sie schien nicht zu mir, sondern durch mich hindurch zu Gott zu sprechen, und ihre Stimme klang seltsam klar. Sie hörte sich wie Himmelsmusik an. Ich vernahm deutlich, wie die Worte Verbrechen, Verbrechen, Verbrechen, die ich in der Nacht zuvor in ihrem Tagebuch gelesen hatte, Worte, die so hoch wie der Eiffelturm aufeinandergeschichtet waren, nun krachend zu Boden stürzten. Das Gewicht jenes vielstöckigen Gebäudes Verbrechen, das dreizehn Jahre lang bestanden hatte, erschlug meine zu Tode erschöpfte, arme Mama und riß sie für immer aus dieser Welt. Unfähig, irgend etwas zu denken,
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