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Das Jagdgewehr

Das Jagdgewehr

Titel: Das Jagdgewehr
Autoren: Yasushi Inoue
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was mich so erschreckt hatte. Statt einer Antwort begann ich zu lachen. Mama war in ihrer Kleidung schon immer extravagant gewesen, und so konnte es eigentlich gar nicht überraschen, daß sie das helle Gewand aus früheren Jahren irgendwann einmal anlegte, um zu sehen, ob es ihr noch immer gefalle. Seit sie krank geworden war, nahm sie gern Gewänder, die sie schon lange nicht mehr getragen hatte, aus dem Schrank, um sich, wie ich vermute, auf diese Weise ein wenig zu zerstreuen. Aber als ich sie in diesem Haori vorfand, war ich doch bestürzt. Sie sah so hübsch darin aus, daß ich, ohne zu übertreiben, sagen könnte, sie sei mir gesund und frisch erschienen, – aber sie wirkte gleichzeitig erschreckend einsam und traurig. Ich hatte sie noch nie so gesehen. Midori folgte mir in Mamas Zimmer nach. »Oh, wie hübsch!« rief sie aus, nahm aber dann schweigend, und als sei sie von Mamas Schönheit bezaubert, neben ihr Platz.
    Den ganzen Tag über mußte ich daran denken, wie wunderschön aber erschreckend verlassen Mamas von dem Haori umhüllte Schultern ausgesehen hatten. Es war, als hätte mir jemand eine kalte Bleistange ins Herz gerammt.
    Gegen Abend legte sich der Wind, der bis dahin heftig gestürmt hatte, ich rechte, zusammen mit unserem Mädchen Sadayo, das abgefallene Laub im Garten zusammen und verbrannte es. Am Tag davor hatte ich bereits ein Bündel Reis-Stroh bereitgelegt, das wir zu einem phantastisch hohen Preis gekauft hatten, und daraus wollte ich Strohasche für Mamas Holzkohlenbecken machen. Da trat Mama, die uns durch die Fenster des Empfangszimmers zugesehen hatte, plötzlich auf die Veranda. In ihrer Hand hielt sie ein in Kartonpapier gewickeltes, kleines Päckchen.
    »Verbrenne das mit!« bat sie mich.
    »Was ist das denn?«
    »Das ist gleichgültig«, erwiderte sie mit mir ungewohnter Strenge. Aber nach einer Weile besann sie sich wohl und sagte in ruhigem Ton:
    »Es ist ein Tagebuch. Mein Tagebuch. Verbrenne das Päckchen so, wie es ist!«
    Dann wandte sie sich ab und ging mit wunderlich schwankenden Schritten fort, als trage sie der Wind hinweg.
    Es dauerte etwa eine Stunde, bis die Strohasche fertig war. Schließlich waren die letzten Strohhalme aufgeflammt und hatten sich in violetten Rauch verwandelt. Ich war jetzt fest entschlossen. Mit Mamas Tagebuch unter dem Arm begab ich mich heimlich in mein im ersten Stock des Hauses liegendes Zimmer hinauf und versteckte es tief hinter dem Bücherbord. In dieser Nacht erhob sich erneut ein heftiger Wind. Als ich von meinem Fenster hinuntersah, kam mir der Garten im Licht des unheimlich weißen Mondes wild wie der Strand irgend eines sehr nördlichen Landes vor, und das Rauschen des Windes erinnerte mich an Wogen, die sich schäumend brachen. Mama und Sadayo waren bereits schlafen gegangen, ich war ganz allein auf. Ich stapelte fünf, sechs dicke Bände eines Konversationslexikons an der Tür, damit diese nicht so leicht geöffnet werden konnte, zog die Vorhänge zu – ich fürchtete mich sogar vor dem Mondlicht, das ins Zimmer floß! – und rückte meine Tischlampe zurecht. Hierauf öffnete ich das Päckchen, fand ein Kollegheft, das Mama als Tagebuch benutzt hatte, und legte es ins Lampenlicht.
    Lieber Onkel Josuke!
    Mich hat hierbei vor allem die Furcht geleitet, ich könnte, falls ich diese Gelegenheit ungenützt verstreichen ließe, in meinem ganzen Leben nie mehr etwas über meinen Vater und über Mama erfahren. Bis dahin glaubte ich naiv, ich sollte mich so lange gedulden, bis ich heiratete, Mama würde mir dann schon einiges erzählen. Aber als ich nun Mama in ihrem Haori erblickt hatte, fühlte ich mich jeder Hoffnung beraubt. Ich war überzeugt, daß Mama nie wieder gesund würde.
    Die Gründe, warum meine Eltern sich getrennt hatten, waren mir von meiner Großmutter in Akashi und einigen anderen Verwandten einmal angedeutet worden. Ich erfuhr, daß mein Vater, als ich fünf Jahre alt war und mit Mama, Großmutter und den Dienstmädchen in Akashi wohnte, an der Universität Kyoto gerade in Kinderheilkunde promovieren wollte, da kam an einem sehr windigen Apriltag plötzlich eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm und wollte Mama sprechen. Kaum hatte sie das Empfangszimmer betreten, legte sie das Baby in die Tokonoma-Nische, und als Mama Tee hereinbrachte, fand sie zu ihrer Bestürzung die junge Frau in einem langen Unterkleid, das sie ihrem Reisekörbchen entnommen hatte. Die Frau war geistesgestört. Später hieß es, das schlecht
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