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Das Jagdgewehr

Das Jagdgewehr

Titel: Das Jagdgewehr
Autoren: Yasushi Inoue
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genährte Baby, das in der Tokonoma-Nische eine Weile unter den Nanten-Früchten geschlafen hatte, sei das Kind meines Vaters und dieser Frau.
    Das Baby soll kurz darauf gestorben sein, und die Frau, deren Krankheit zum Glück nur vorübergehender Art gewesen war, erholte sich bald wieder. Sie soll heute mit einem Kaufmann in Okayama glücklich verheiratet sein. Kurz nach jenem Zwischenfall verließ Mama Akashi eilig mit mir, und mein Vater, den die Familie meiner Mutter adoptiert hatte, zog fort. Als ich dann schon in die Oberschule ging, sagte meine Großmutter eines Tages zu mir: »Saiko ist viel zu eigensinnig gewesen. Es war doch damals nichts mehr zu ändern …«
    Vielleicht ist Mama in Fragen der Reinheit allzu empfindlich gewesen, und sie hat aus diesem Grunde meinem Vater seinen Fehltritt einfach nicht verzeihen können. Das ist alles, was ich hiervon weiß. Bis zu meinem siebenten oder achten Lebensjahr war ich überzeugt, daß mein Vater nicht mehr lebte. Man hat mich in dem Glauben erzogen, er sei tot, und noch jetzt werde ich dieses Gefühl nicht los. So oft ich mich auch darum bemühe, ich kann mir meinen Vater, der, eine Wegstunde von hier entfernt, noch immer unverheiratet, ein großes Krankenhaus leitet, gar nicht vorstellen! Ja, selbst wenn er wirklich noch lebte – mein Vater ist schon vor langer Zeit gestorben!
    Ich öffnete die erste Seite von Mamas Tagebuch. Das erste Wort, das ich da in meiner Aufregung entdeckte, war ein Wort, mit dem ich am allerwenigsten gerechnet hatte. Es hieß: Verbrechen. Die Worte Verbrechen, Verbrechen, Verbrechen standen, wohin ich auch schaute, und sie waren so leidenschaftlich geschrieben, daß ich Mamas Hand kaum mehr darin erkennen konnte. Und als sei Mama unter dem Gewicht dieser aufeinandergetürmten Worte ›Verbrechen‹ zu Boden gestürzt, so stand da wie ein Aufschrei: »Gott, vergib mir! Midori-san, vergib mir!« Alles andere nahmen meine Augen nicht mehr wahr, nur die Worte dieser einen Zeile erschienen wie Dämonen grauenhaft lebendig und starrten mich mit drohenden Gesichtern an, als wollten sie sich auf mich stürzen. Ich schloß das Tagebuch sofort. Es war ein furchtbarer Augenblick. Rings um mich war alles totenstill, ich vernahm nur das laute Pochen meines Herzens. Ich stand auf, um mich noch einmal zu vergewissern, daß Tür und Fenster fest zu waren. Und als ich zu meinem Tisch zurückkam, öffnete ich das Tagebuch entschlossen wieder. In einem Gefühl, als sei ich nun selber ein Teufel, verschlang ich es von seiner ersten bis zur letzten Seite. Aber ich fand nicht eine Zeile über das, was ich so ungeduldig zu wissen begehrt hatte, den Grund nämlich, warum meine Eltern auseinandergegangen waren. Ich erfuhr nur von dem heimlichen Verhältnis zwischen Dir und Mama, eine Sache, die ich nicht im Traum für möglich gehalten hätte. Mama hat ihre Empfindungen in diesem Tagebuch mit wilder Leidenschaft zu Papier gebracht. Manchmal litt sie offenbar sehr unter dieser Liebe, manchmal war sie glücklich, ein andermal betete sie, dann wieder war sie verzweifelt oder gar entschlossen, sich umzubringen – ja, sie hat oft ernstlich erwogen, ob sie sich nicht das Leben nehmen sollte! Falls durch irgendeinen Zufall Midori entdeckte, was zwischen Dir und ihr vorging, wollte sie sich, schrieb sie, töten. Ich vermag es mir einfach nicht vorzustellen, daß Mama, die sich doch immer heiter und fröhlich mit Midori unterhielt, sich so entsetzlich vor ihr geängstigt hat!
    Nachdem ich das Tagebuch zu Ende gelesen hatte, wußte ich, daß Mama in den letzten dreizehn Jahren der Gedanke an den Tod schwer bedrückt hat. Gelegentlich trug sie vier, fünf Tage, manchmal zwei, drei Monate lang nichts in ihr Tagebuch ein. Aber auf jeder Seite stand sie dem Tod gegenüber. »Wäre der Tod nicht die allerbeste Lösung? Er erledigt doch alles!« Wie kam sie zu so verzweifelten und zügellosen Reden? »Was hat einer, der auf das Sterben vorbereitet ist, noch zu fürchten? Saiko, du mußt viel tapferer sein!« Was brachte meine sanfte Mama dazu, so rebellische Worte zu äußern? War das Liebe? War es jenes schöne und strahlende Gefühl, das man Liebe nennt? Einmal schenktest Du mir zu meinem Geburtstag ein Buch mit dem Bild einer stolzen, nackten Frau, die aufrecht an einer Quelle stand. Sie ließ das lange Haar ihren Oberkörper herunterwallen, und ihre beiden Hände hielten ihre wie Knospen aufragenden Brüste umspannt. In diesem Buche hieß es, das sei die Liebe. Aber wie
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