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Das Jagdgewehr

Das Jagdgewehr

Titel: Das Jagdgewehr
Autoren: Yasushi Inoue
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gepriesen wird. Ich glaubte, daß die Liebe langsam wie ein klares, dahinfließendes Wasser wächst, wie ein Fluß, der wundervoll im Sonnenschein leuchtet und dessen Ufer voll Gräser, Bäumen und Blüten ist. Das, so meinte ich, sei die Liebe. Wie hätte ich mir eine Liebe vorstellen können, die von der Sonne nicht beschienen wird? Eine Liebe, die irgendwoher irgendwohin fließt, tief in der Erde wie ein unterirdischer Strom?
    Mama hat mich dreizehn Jahre lang getäuscht, und noch als sie starb, hielt sie die Wahrheit vor mir verborgen. Ich hätte das niemals für möglich gehalten. Ich hätte es mir nicht träumen lassen, daß es zwischen Mama und mir so ein Geheimnis gibt! Mama pflegte zu sagen, wir beide seien Mutter und Tochter, die man ganz allein auf Erden zurückgelassen hat. Aber sie weigerte sich standhaft, mir offen zu erzählen, warum sich mein Vater von ihr einst hat scheiden lassen. Sie behauptete, ich würde das, sobald ich heiratete, schon noch begreifen. Wie begierig ich war, endlich so alt zu sein! Ich wollte durchaus nicht ungeduldig irgendwelche Einzelheiten darüber erfahren, was sich zwischen den beiden zugetragen hatte. Ich wußte, wie schwer es für sie war, mir etwas zu verschweigen. Ja, es schien untragbar für sie zu sein! Und so kann ich es jetzt gar nicht fassen, daß Mama es fertiggebracht hat, noch ein weiteres Geheimnis vor mir zu hüten.
    Als ich ein Kind war, erzählte mir Mama die Geschichte von dem Wolf, der von einem Dämonen besessen war und einen kleinen Hasen ins Verderben lockte. Der Wolf wurde wegen dieser Untat in einen Stein verwandelt. Mama betrog mich, sie betrog Midori, sie betrog jedermann! Oh, es ist grauenvoll! Was in aller Welt hat Mama dazu gebracht? Was für ein schlimmer Dämon ist in sie gefahren? Ja! Mama hat in ihrem Tagebuch selber das Wort Verbrecher gebraucht. »Ich und Misugi werden Verbrecher sein. Und weil wir nun keine andere Möglichkeit mehr haben, als Verbrecher zu sein, wollen wir große Verbrecher sein!« Arme, arme Mama! Sie war ärmer als der Wolf, der den kleinen Hasen in eine Falle lockte. Wie konntet Ihr, Du und Mama, Euch nur dazu entscheiden, Verbrecher zu sein, große Verbrecher? Wie grauenvoll ist das, daß eine Liebe nicht existieren kann, ohne Schuld auf sich zu laden! Als ich ein Kind war, kaufte man mir auf dem Tempelmarkt zur Feier des Shoten-san in Ninomiya als Papierbeschwerer eine Glaskugel, in der rote, künstliche Blütenblätter waren. Ich nahm die Kugel und ging damit weiter, aber plötzlich fing ich zu schluchzen an. Keiner konnte das begreifen. Nun war ich wie diese Blütenblätter, die in einem kalten Glase unbeweglich gefroren sind und sich überhaupt nicht bewegen können, – Blütenblätter, zum Tode verurteilt! Als ich mir überlegte, wie den Blättern wohl zumute war, befiel mich damals als Kind eine unbeschreibliche Traurigkeit. Und diese Traurigkeit ist jetzt in mich zurückgekehrt. Die Liebe zwischen Dir und Mama gleicht jenen Blütenblättern.
    Lieber Onkel Josuke!
    Vielleicht zürnst Du mir, daß ich Mamas Tagebuch heimlich gelesen habe. Am Tag vor ihrem Tod ahnte ich es fast, daß sie sich nie wieder erholen würde. Irgend etwas in ihrem Aussehen vermittelte mir die furchtbare Gewißheit, daß ihre letzte Stunde unaufhaltsam näher rückte. Das einzig Besorgniserregende in den letzten sechs Monaten war das ständige, leichte Fieber, aber Mama hatte immerhin unveränderten Appetit, sie sah, wie Du weißt, frisch aus, und ihr Körpergewicht nahm sogar etwas zu. Und doch erschien mir ihr Rücken, insbesondere die Linie von ihrem Hals bis zu den Schultern, seltsam traurig. Am Tage, bevor sie starb, kam Midori, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, und ich begab mich in Mamas Zimmer, um ihr den Besuch zu melden, aber als ich die Schiebetür öffnete, erschrak ich zutiefst. Mama saß auf dem Bett, ihr Gesicht war von mir abgewandt, und sie trug einen blaugrauen Haori-Überwurf aus Yuki-Seide mit großen, hellen Distelmustern, den sie bisher, in Papier gewickelt, in ihrem Schrank verwahrt gehalten und mir als Geschenk schon einmal versprochen hatte. Diesen Haori fand sie für sich allzu heiter, und so trug sie ihn bis zu diesem Augenblick auch nie.
    »Was hast du denn?« fragte sie, wandte mir ihr Gesicht zu und konnte offenbar nicht recht begreifen, was mich so bestürzt hatte.
    »Aber …« stammelte ich, doch dann wußte ich nicht recht, wie ich fortfahren sollte, und kurz darauf erinnerte ich mich kaum mehr,
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