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Das Jagdgewehr

Das Jagdgewehr

Titel: Das Jagdgewehr
Autoren: Yasushi Inoue
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hockte ich am Boden und folgte ihren Blicken, die auf irgendeinen Punkt in der Ferne gerichtet zu sein schienen, doch plötzlich packte mich ein irrer Zorn. Ja, es war wirklich ein Zorn, eine heiße, aufkochende, unbeschreibliche Wut gegen – ich weiß nicht was. Während ich noch in Mamas schmerzerfülltes Gesicht starrte, sagte ich knapp: »So? Ja, ich verstehe.«
    Ich antwortete, als ginge mich das alles nichts an. Kaum waren aber diese Worte aus meinem Mund, da spürte ich, wie mein Herz so kalt wurde, als hätte jemand eisiges Wasser darübergegossen, und ich stand so unfaßlich ruhig auf, daß es mich selber erstaunte. Ich begab mich jedoch nicht durch das Empfangszimmer, sondern schritt wie träumend durch den langen, rechtwinkligen Korridor, – da plötzlich begannen Mamas kurze Schmerzensschreie, die so grauenhaft klangen, als würde sie von den trüben Fluten des Todes verschlungen! Ich rannte ans Telephon und rief Dich. Aber nach fünf Minuten kamst nicht etwa Du, sondern es stürzte, in schrecklicher Verwirrung, Midori ins Haus. Mama starb, während ihre Hand in der Midoris lag, eines Menschen, den sie mehr als irgendeinen anderen geliebt und gleichzeitig gefürchtet hat. Midori legte ein weißes Tuch über Mamas Gesicht, das nun weder Schmerz noch Traurigkeit mehr kannte.
    Lieber Onkel Josuke!
    Die erste Nacht darauf, während der Totenwache, war so still, daß sie gar nicht mehr wie eine Nacht auf dieser Erde erschien. Das Gehen und Kommen einer Menge von Leuten, des Polizisten, des Arztes und der Nachbarn – all das war mit dem Anbruch der Nacht mit einem Male zu Ende, und nur Du, Midori und ich waren vor Mamas Sarg geblieben. Wir alle schwiegen, als lauschten wir am Strand auf das leise Heranrollen der Wellen. Jedesmal, wenn ein Weihrauch-Stäbchen zu Asche verbrannt war, steckte abwechselnd einer von uns ein neues an, faltete vor Mamas Photo die Hände im Gebet und öffnete dann leise das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Du schienst am traurigsten von uns zu sein. Als Du aufstandest, um ein neues Weihrauch-Stäbchen zu opfern, betrachtetest Du lange das Photo, und es huschte aus irgendeinem Grunde, den wir nicht ahnten, ein leises Lächeln über Deine Lippen. Wie schwer Mamas Leben auch immer gewesen sein mag, vielleicht war es – so mußte ich in jener Nacht immer wieder denken – schließlich doch glücklich.
    Etwa um neun Uhr, als ich zum Fenster ging, brach ich plötzlich in lautes Schluchzen aus. Du erhobst Dich, legtest Deine Hände auf meine Schultern und gingst dann wieder zu Deinem Sitz zurück. Aber ich weinte dieses Mal nicht aus Schmerz darüber, daß Mama tot war. Mir war eingefallen, daß Mama, kurz bevor sie starb, nicht ein einziges Mal Deinen Namen gerufen hatte, und ich wunderte mich, warum, als ich Dir telefonierte, Mama liege im Sterben, nicht Du herbeigeeilt kamst sondern Midori. Während ich über all das nachsann, überwältigte mich plötzlich unbeschreibliche Traurigkeit. Ich glaube, ich weinte aus Mitleid mit Dir, weil Ihr, Du und Mama, bis zum letzten Tag ihres Lebens gezwungen wart, Euch zu verstellen, um Eure Liebe zu schützen, und ich erinnerte mich gerührt der Blütenblätter in dem Papierbeschwerer, die in der Glaskugel gekreuzigt waren! Ich stand auf, öffnete das Fenster, blickte zornig zu dem kalten Himmel auf und unterdrückte die Verzweiflung in mir, die sich in lautem Schreien zu lösen versuchte. Aber als mir einfiel, daß eben in diesem Augenblick Mamas Liebe zum Sternenhimmel aufstieg, und diese ihre – niemandem bekannte – Liebe heimlich durch die vereinzelten Sterne hindurch nach oben eilte, konnte ich mich nicht länger beherrschen. Verglichen mit der tiefen Traurigkeit jener zum Himmel emporsteigenden Liebe erschien mir die Traurigkeit über Mamas Tod fast bedeutungslos.
    Als ich beim Nachtessen die Stäbchen für den Sushi-Reis aufnahm, brach ich noch einmal in heftiges Weinen aus. Midori sagte zu mir sanft und mit ruhiger Stimme:
    »Versuche doch, dich ein wenig zu beherrschen. Ich bin sehr traurig, daß ich nicht weiß, wie ich dich trösten könnte!«
    Als ich mir die Tränen aus den Augen wischte und zu ihr aufsah, bemerkte ich, daß auch sie weinte. Während ich ihre hübschen, nassen Augen betrachtete, schüttelte ich stumm den Kopf. Midori bemerkte diese winzige Bewegung gar nicht weiter. Dieses Mal weinte ich, weil mir Midori furchtbar leid tat. Als ich sah, wie sie vier Reis-Schälchen mit Sushi füllte, das eine für Mama als
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