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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Autoren: Carson McCullers
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passierten, nicht vorstellen können. Er hatte noch nie einen Menschen erlebt, der sich in zwölf Tagen so oft veränderte. Er hatte noch nie einen Kerl gesehen, der so viel trank und so lange betrunken blieb.
    Biff drückte mit dem Daumen die Nasenspitze hoch und rasierte sich die Oberlippe. Fertig; sein Gesicht fühlte sich kühler an. Alice schlief, als er durchs Schlafzimmer wieder hinunterging.
    Der Koffer war schwer. Er brachte ihn vorn ins Lokal und stellte ihn hinter die Registrierkasse, wo er selbst jeden Abend stand. Gründlich schaute er sich um: Einige Gäste waren gegangen. Das Lokal war nicht mehr ganz so voll, aber die Szene war unverändert. Der Taubstumme saß immer noch allein bei seinem Kaffee. Der Betrunkene hatte immer noch nicht aufgehört zu reden. Er wandte sich an keinen direkt, und es hörte ihm auch keiner zu. Als er heute Abend ins Lokal kam, trug er nicht mehr den dreckigen Leinenanzug der letzten zwölf Tage, sondern diesen blauen Overall. Er hatte auch keine Socken mehr an, und seine Knöchel waren zerkratzt und starrten vor Schmutz.
    Biff pickte einige Brocken seines Selbstgesprächs auf. Der Kerl schien wieder mal verrücktes politisches Zeug zu reden. Gestern Abend hatte er erzählt, wo er schon überall gewesen war – Texas, Oklahoma und Nord- und Süd-Carolina. Einmal war er auf Nutten zu sprechen gekommen, und seine Witze waren so derb gewesen, dass man ihn mit Bier zum Schweigen bringen musste. Aber meistens wusste keiner so recht, was er eigentlich sagte. Er redete und redete. Die Worte sprudelten aus ihm heraus wie ein Wasserfall. Und dann wechselte er in einem fort den Dialekt, und nicht nur das: Einmal redete er wie ein Fabrikarbeiter, ein andermal wie ein Professor. Manchmal gebrauchte er ellenlange Wörter, und dann wieder haperte es mit der Grammatik. Schwer zu sagen, was für eine Kinderstube er hatte oder aus welchem Teil des Landes er kam. Er war jedes Mal anders. Nachdenklich tätschelte Biff seine Nasenspitze. Nein, da passte nichts zusammen, und das musste mit dem Kopf zu tun haben. Sicher, der Mann da hatte Verstand, aber er sprang zusammenhanglos von einer Sache zur andern. Etwas schien ihn aus der Bahn geworfen zu haben.
    Biff lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf die Theke und schlug die Abendzeitung auf. Eine Schlagzeile befasste sich mit dem Beschluss, den der Stadtrat nach viermonatiger Beratung gefasst hatte: Die Anbringung von Verkehrsampeln an gewissen Kreuzungen übersteige das Budget der Stadtverwaltung. In der linken Spalte wurde über den Krieg im Orient berichtet. Biff las eins so aufmerksam wie das andere. Während seine Augen den Zeilen folgten, achteten seine übrigen Sinne auf das Treiben ringsum. Als er mit den Artikeln fertig war, starrte er immer noch mit gesenkten Lidern auf die Zeitung. Er war nervös. Der Kerl da war ein Problem, und bis morgen früh mussten sie sich irgendwie einigen. Er fühlte, ohne zu wissen, warum, dass heute Nacht etwas Bedeutsames geschehen würde. Der Kerl konnte schließlich nicht ewig so weitermachen.
    Biff spürte, dass jemand im Eingang stand, und blickte rasch auf. Ein langes, blondes Mädchen von etwa zwölf Jahren sah zur Tür herein. Sie trug Khaki-Shorts, ein blaues Hemd und Tennisschuhe. Auf den ersten Blick wirkte sie wie ein Junge. Biff schob die Zeitung beiseite und lächelte, während sie auf ihn zukam.
    »’n Abend, Mick. Warst du bei den Pfadfinderinnen?«
    »Nein«, sagte sie. »Bin nicht bei denen.«
    Aus dem Augenwinkel sah er, dass der Betrunkene mit der Faust auf den Tisch schlug und sich von dem Mann abwandte, auf den er eingeredet hatte.
    Biffs Stimme war leiser, als er das Mädchen fragte: »Wissen deine Eltern, dass du nach Mitternacht noch unterwegs bist?«
    »Ist schon in Ordnung. ’n ganzer Haufen Kinder ist noch draußen beim Spielen.«
    Er hatte sie nie mit einem Gleichaltrigen ins Lokal kommen sehen. Vor ein paar Jahren hatte sie immer an ihrem großen Bruder geklebt. Die Kellys waren zahlenmäßig eine ansehnliche Familie. Später dann zog sie zwei Rotznasen im Handwagen hinter sich her. Aber wenn sie grad nicht auf die Kleinen aufpasste oder hinter den Größeren herlief, war sie allein. Nun stand sie da und schien nicht zu wissen, was sie eigentlich wollte. Sie strich sich immer wieder mit der flachen Hand das feuchte, weißblonde Haar zurück.
    »Ein Päckchen Zigaretten, bitte. Die billigsten.«
    Biff wollte etwas sagen, zögerte aber und langte dann unter die Theke. Mick zog
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