Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Autoren: Carson McCullers
Vom Netzwerk:
Stunden zur Ruhe; dann fiel er in einen dumpfen Schlaf, bis ihn das messerscharfe Morgenlicht jäh weckte.
    Er gewöhnte es sich an, abends in der Stadt umherzustreifen. Die Wohnung, in der Antonapoulos gelebt hatte, wurde ihm unerträglich: Er mietete ein Zimmer in einer schäbigen Pension, unweit des Stadtzentrums.
    Seine Mahlzeiten nahm er im Café New York ein, das nur zwei Straßenecken weiter am Ende der langen Hauptstraße lag. Am ersten Tag überflog er die Speisekarte, schrieb ein paar Zeilen und reichte sie dem Wirt:
Jeden Morgen zum Frühstück
bitte ein Ei, Toast und Kaffee
 
$ 0.15
Zum Lunch bitte Suppe (irgendeine),
ein Sandwich mit Fleisch und Milch
 
$ 0.25
Abends bitte dreierlei Gemüse
(egal welches, nur keinen Kohl),
Fisch oder Fleisch und ein Glas Bier
 
 
$ 0.35
     
Vielen Dank.
    Der Wirt las den Zettel und warf Singer einen aufmerksamen, höflichen Blick zu. Er war ein starker Mann von mittlerer Größe mit einem so dunklen, dichten Bart, dass sein Kinn wie aus Eisen gegossen wirkte. Meistens stand er, die Arme über der Brust verschränkt, in der Ecke bei der Registrierkasse und beobachtete ruhig alles, was um ihn vorging. Singer war das Gesicht dieses Mannes inzwischen sehr vertraut, denn er nahm dort täglich drei Mahlzeiten ein.
    Jeden Abend wanderte der Taubstumme stundenlang allein durch die Straßen. Manchmal waren die Nächte kalt vom scharfen, feuchten Märzwind und vom strömenden Regen. Aber das war ihm gleich. Er schritt kraftvoll aus, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben. Die Wochen vergingen, und es kamen drückend warme Tage. Seine Anspannung wich allmählich der Erschöpfung, eine tiefe Ruhe schien über ihn zu kommen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war nachdenklich und gefasst, wie man ihn oft bei sehr unglücklichen oder sehr weisen Menschen sieht. Aber er wanderte weiter durch die Straßen der Stadt, stumm und allein.
    2
     
    In einer dunklen schwülen Frühsommernacht stand Biff Brannon hinter der Registrierkasse des Café New York. Es war Mitternacht. Die Straßenlaternen draußen waren schon abgedreht, und das Licht aus dem Café warf ein scharf gezeichnetes gelbes Rechteck auf den Gehsteig. Die Straße war menschenleer, aber im Café saßen noch ein paar Gäste, die Bier, Santa-Lucia-Wein oder Whisky tranken. Biff wartete gleichmütig, den Ellenbogen auf die Theke gestützt, und knetete mit dem Daumen die Spitze seiner langen Nase. Gespannt beobachte er einen betrunkenen kleinen Mann im Overall, der immer lauter wurde. Dann und wann schweifte sein Blick zu dem Taubstummen, der allein an einem Tisch in der Mitte des Raums saß, oder zu den Gästen an der Theke, kehrte aber immer wieder zu dem Betrunkenen im Overall zurück. Es wurde später und später, und Biff wartete immer noch schweigend hinter der Theke. Schließlich warf er einen letzten prüfenden Blick auf die Runde und wandte sich dann zur Hintertür, die nach oben führte.
    Er trat leise in das Zimmer neben dem oberen Treppenabsatz. Drinnen war es dunkel, und er ging behutsam weiter. Nach einigen Schritten stieß er mit dem Fuß gegen etwas Hartes; er langte hinunter und griff nach dem Griff des Koffers, der auf dem Fußboden stand. Er war nur wenige Sekunden im Zimmer und wollte schon wieder gehen, als das Licht angedreht wurde.
    Alice setzte sich im zerwühlten Bett auf und sah ihn an. »Was machst du da mit dem Koffer?«, fragte sie. »Kannst du diesen Irren nicht einfach loswerden? Das Zeug hat er eh längst versoffen.«
    »Steh auf und geh selber runter. Ruf die Polente und lass ihn in Ketten legen bei Erbsen und Maisbrot. Los, mach schon, Missis Brannon!«
    »Das mach ich auch, wenn er morgen noch unten ist. Lass nur den Koffer stehn. Der gehört dem Schnorrer sowieso nicht mehr.«
    »Mit Schnorrerei kenn ich mich aus, der Blount ist kein Schnorrer«, sagte Biff. »Ich – ich weiß nicht. Ich bin doch kein Dieb.«
    Biff stellte ruhig den Koffer draußen an die Treppe. Die Luft im Zimmer war weniger verbraucht und schwül als unten. Er wollte noch ein Weilchen oben bleiben. Dann würde er sich das Gesicht kalt abwaschen und wieder runtergehen.
    »Ich habe dir doch gesagt, was ich tu, wenn du den Kerl heute Nacht nicht endgültig rausschmeißt. Tagsüber sitzt er hinten und pennt, und abends fütterst du ihn durch. Seit einer Woche hat er keinen Cent bezahlt. Und dann dieses Gequatsche und Getue – der macht uns noch das Geschäft kaputt.«
    »Du verstehst nichts von Leuten, und du
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher