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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Autoren: Carson McCullers
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»Ich bin ein Wissender. Ich bin ein Fremder in einem fremden Land.«
    »Sei endlich ruhig«, sagte Biff.
    Blount achtete nur noch auf den Taubstummen. Sie sahen einander an. Die Augen des Taubstummen waren kühl und sanft wie Katzenaugen, sein ganzer Körper schien zu lauschen. Der Betrunkene wurde wütend.
    »Du bist der Einzige in dieser Stadt, der kapiert, was ich meine«, sagte Blount. »Zwei Tage lang hab ich jetzt in Gedanken mit dir geredet, weil ich weiß, dass du mich verstehst.«
    Einige Leute in einer Nische lachten, weil er sich mit einem Taubstummen unterhielt. Biff warf den beiden Männern kleine, scharfeBlicke zu und lauschte aufmerksam.
    Blount setzte sich an den Tisch und beugte sich zu Singer hinüber. »Es gibt die Wissenden und die Unwissenden, und auf tausend Unwissende kommt bloß ein Wissender. Das eben ist das ewige Wunder: dass all diese Millionen so viel wissen, nur dieses eine nicht. Wie im fünfzehnten Jahrhundert, wo sie alle glaubten, die Welt wäre flach, und nur Columbus und ein paar andre Kerle kannten die Wahrheit. Der Unterschied ist, dass man begabt sein musste, um sich die Erde rund vorzustellen. Meine Wahrheit ist aber so naheliegend, dass es wirklich ein Weltwunder ist, dass die Leute sie nicht erkennen. Kapiert?«
    Biff stützte die Ellenbogen auf die Theke und sah Blount neugierig an. »Was für ’ne Wahrheit?«, fragte er.
    »Hör nicht auf den«, sagte Blount. »Kümmer dich nicht um diesen plattfüßigen Blaubart, um diesen oberschlauen Hurensohn. Sieh mal, wenn zwei Wissende wie wir aufeinanderstoßen, das ist ein Ereignis. Das kommt so gut wie nie vor. Manchmal begegnen wir einander, aber keiner ahnt, dass der andre die Wahrheit kennt. Schlimme Sache das. Ist mir x-mal passiert. Aber weißt du, von unsrer Sorte gibt’s eben so wenig.«
    »Wohl Freimaurer, was?«, sagte Biff.
    »Halt’s Maul! Sonst reiß ich dir den Arm aus und schlag dich damit grün und blau«, brüllte Blount. Er beugte sich dicht zu dem Taubstummen hinüber, und seine Stimme sank zu einem trunkenen Flüstern herab. »Und wie kommt das? Warum hat sich dieses Wunder an Unwissenheit so lange gehalten? Ein einziger Grund: eine Verschwörung. Eine große und gemeine Verschwörung. Ob-sku-ran-tis-mus.«
    Die Männer in der Nische lachten immer noch über den Betrunkenen, der sich ausgerechnet mit einem Taubstummen unterhielt. Nur Biff blieb ernst. Ihn interessierte es, ob der Taubstumme wirklich verstand, was man zu ihm sagte. Der Kerl nickte häufig und machte ein nachdenkliches Gesicht. Es ging bloß langsamer bei ihm – das war’s. Jetzt riss Blount mitten in seiner Rede über das Wissen ein paar Witze. Der Taubstumme lächelte immer erst einige Sekunden nach der Pointe. Und wenn der Betrunkene schon wieder bei seinen düsteren Geschichten war, lag immer noch ein Lächeln auf Singers Gesicht. Der Kerl war wirklich unheimlich. Man musste ihn einfach beobachten, auch wenn man gar nicht wusste, dass er anders war als alle anderen. Wenn man seine Augen sah, meinte man, er hörte Dinge, die kein anderer je gehört hatte, dass er Dinge wusste, die niemand anders vor ihm geahnt hatte. Etwas an ihm war nicht ganz menschlich.
    Jake Blount lehnte sich über den Tisch, und die Worte sprudelten hervor, als wäre ein Damm in ihm gebrochen. Biff konnte ihn nicht mehr verstehen. Blounts Zunge war schwer vom Trinken, und er sprach dennoch so schnell, dass alles durcheinandergeriet. Biff fragte sich, wo er wohl hingehen würde, wenn Alice ihn hinauswarf. Und genau das würde sie morgen früh tun – genau wie sie’s gesagt hatte.
    Biff gähnte verhalten und hielt die Finger vor den Mund, bis sein Kiefer sich wieder entspannte. Es war beinah drei Uhr, die fadeste Zeit am ganzen Tag.
    Der Taubstumme war geduldig. Er hatte Blount fast eine Stunde lang zugehört. Nun sah er ab und zu auf die Uhr. Blount merkte es nicht und redete immer weiter. Als er schließlich innehielt, um sich eine Zigarette zu drehen, deutete der Taubstumme mit dem Kopf auf die Uhr, lächelte verstohlen und stand auf. Seine Hände steckten wie immer tief in den Taschen. Er ging rasch hinaus.
    Blount war so betrunken, dass er nichts davon bemerkte. Es war ihm auch gar nicht aufgefallen, dass der Taubstumme ihm kein Mal geantwortet hatte. Nun sah er sich mit offenem Mund und trüben rollenden Augen im Lokal um. Auf seiner Stirn schwoll eine rote Ader, und er begann wütend mit den Fäusten auf den Tisch zu schlagen. Lange durfte er nun nicht mehr
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