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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Autoren: Carson McCullers
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genießerisch sein Bier und hielt die halbgeschlossenen Augen unverwandt auf Blount gerichtet. Nein, dieser Blount war nicht missgebildet, obwohl er auf den ersten Blick so wirkte. Irgendetwas an ihm schien zwar verrutscht zu sein, aber wenn man näher hinsah, war jeder Körperteil normal und so, wie er sein sollte. Wenn er sich also nicht körperlich von den anderen unterschied, dann wahrscheinlich geistig. Es wirkte so, als hätte er mal im Gefängnis gesessen oder in Harvard studiert oder lange Zeit unter Fremden in Südamerika gelebt. Als wäre erirgendwo gewesen, wo andere nicht so leicht hinkommen, oder als hätte er was getan, wozu andere nicht imstande sind. Biff legte den Kopf schief und fragte: »Wo kommst du her?«
    »Von nirgendwo.«
    »Na, irgendwo musst du doch geboren sein. Nord-Carolina, Tennessee, Alabama – irgendwo.«
    »Carolina«, sagte Blount mit trübem Blick.
    »Kann mir schon denken, dass du viel rumgekommen bist«, bemerkte Biff taktvoll.
    Aber der Betrunkene hörte gar nicht zu. Er hatte sich von der Theke abgewandt und starrte hinaus auf die dunkle, leere Straße. Gleich darauf ging er mit unsicheren Schritten zur Tür.
    »Adios«, rief er noch.
    Biff war wieder allein und unterzog das Restaurant noch einmal einer gründlichen Prüfung: ein Uhr vorbei; nur vier oder fünf Gäste waren noch im Lokal. Der Taubstumme saß immer noch allein an seinem Tisch. Biff betrachtete ihn träge und schwenkte den kleinen Rest Bier in seinem Glas. Dann leerte er das Glas mit einem bedächtigen Schluck und kehrte wieder zu der Zeitung zurück, die aufgeschlagen auf der Theke lag.
    Aber diesmal konnte er sich nicht auf die Worte konzentrieren. Er musste an Mick denken. Ob es wohl richtig gewesen war, ihr das Päckchen Zigaretten zu verkaufen? Ob Rauchen für Kinder wirklich schädlich war? Er dachte daran, wie Mick die Augen verengte und die Ponyfransen ihres Haars mit der Handfläche zurückstrich. Er dachte an ihre rauhe Jungsstimme und an ihre Angewohnheit, die Khaki-Shorts hochzuziehen und wie ein Cowboy im Film umherzustelzen. Ein Gefühl von Zärtlichkeit überkam ihn. Es war ihm unangenehm.
    In seiner Ruhelosigkeit wandte Biff seine Aufmerksamkeit Singer zu. Der Taubstumme saß mit den Händen in den Taschen da; sein Bier im halbleeren Glas war warm und schal. Bevor Singer ging, würde Biff ihn zu einem Gläschen Whisky einladen. Was er zu Alice gesagt hatte, stimmte: Er hatte was übrig für die Kranken und Verkrüppelten. Wann immer jemand mit einer Hasenscharte oder mit Tb ins Lokal kam, spendierte er ihm ein Bier. Hatte der Gast einen Buckel oder sonst ein schweres Gebrechen, dann bekam er sogar einen Whisky. Einem armen Kerl waren bei einer Kesselexplosion das Ding und sein linkes Bein abgerissen worden, und wenn er in der Stadt war, gab es für ihn immer einen Gratis-Drink. Wenn Singer sich etwas aus Whisky machte, dann sollte er ihn von nun an zum halben Preis bekommen. Biff nickte vor sich hin. Dann faltete er die Zeitung ordentlich zusammen und legte sie zu den anderen unter die Theke. Wenn die Woche um war, packte er sie in den Vorratsraum hinter der Küche, wo er schon einundzwanzig vollständige Jahrgänge der Abendzeitung verwahrte.
    Um zwei Uhr kam Blount wieder ins Lokal. Er brachte einen langen Neger mit, der eine schwarze Handtasche trug. Der Betrunkene versuchte ihn an die Theke zu lotsen, aber sobald der Neger merkte, wozu man ihn hierhergeschleppt hatte, drehte er sich um und ging. Biff erkannte in ihm den Arzt, der schon seit Ewigkeiten hier in der Stadt die Schwarzen behandelte. Irgendwie war er mit dem jungen Willie hinten in der Küche verwandt. Biff bemerkte, dass er im Hinausgehen Blount einen hasserfüllten Blick zuwarf.
    Der Betrunkene stand regungslos da.
    »Weißt du nicht, dass du in ein Lokal für Weiße keine Nigger bringen darfst?«, fragte jemand.
    Biff verfolgte alles aus der Entfernung. Blount war wütend, und nun sah man deutlich, wie betrunken er war.
    »Bin selbst ’n halber Nigger«, rief er herausfordernd.
    Biff ließ ihn nicht aus den Augen. Im Lokal war es ganz still geworden. Blounts Nasenflügel waren gebläht, und er rollte mit den Augen. Es sah so aus, als hätte er die Wahrheit gesagt.
    »Halber Nigger und Makkaronifresser und Russki und Schlitzauge. Von jedem was.«
    Die Leute lachten.
    »Und Holländer und Türke und Japaner und Amerikaner.« Er torkelte zu dem Tisch, an dem der Taubstumme seinen Kaffee trank. Seine Stimme war laut und heiser.
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