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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter
Autoren: Jodi Picoult
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mit Oliver neben mir
auf der Couch im Wohnzimmer ein. Ich träumte, dass ich im Dunkeln in meinen
Lieblingspumps herumstöckelte, aber sie drückten. Ich blickte nach unten und
sah, dass ich nicht auf Gras ging, sondern auf einem Boden, der aussah wie eine
von Sprüngen durchzogene Windschutzscheibe nach einem Unfall, wie die rissige,
ausgedörrte Landschaft einer Wüste. Dauernd blieb ich mit den Absätzen in den
Rissen stecken, und schließlich musste ich stehen bleiben, um einen
herauszuziehen.
    Dabei löste sich ein Klumpen Erde, und
darunter war Licht, wie reine, flüssige Lava. Ich trat mit dem Absatz ein
weiteres Stück Erde weg, und noch mehr Strahlen schossen heraus und nach oben.
Ich bohrte Löcher, und Licht strahlte auf. Ich tanzte, und die Welt wurde
erleuchtet, so hell, dass ich meine Augen schützen musste; so hell, dass mir
unwillkürlich die Tränen kamen.
     
    JUNE
     
    Am Abend vor der Transplantation hatte
ich Ciaire den Ablauf der OP so erklärt:
    Sie bringen dich in den Operationssaal
und geben dir eine Vollnarkose.
    Sie bereiten dich vor und legen dir ein
Operationstuch über den Körper. Sie sägen dein Brustbein auf. Tut das nicht weh?
    Natürlich nicht, sagte ich. Du schläfst
ja tief und fest.
    Ich kannte das Verfahren genauso gut wie
ein Herzchirurg; ich hatte es genauso gewissenhaft studiert und genauso lange. Und dann?, hatte
Ciaire gefragt.
    Die Aorta, die obere und die unter
Hohlvene werden präpariert. Katheter werden gelegt. Dann wirst du an die
Herz-Lungen-Maschine angeschlossen.
    Was ist das?
    Die übernimmt die Arbeit für dich. Sie
saugt das sauerstoffarme Blut aus den Hohlvenen, reichert es mit Sauerstoff an
und leitet es durch die Kanüle wieder in die Aorta.
    Kanüle ist ein cooles Wort. Hört sich gut
an.
    Ich ließ den Teil aus, wie ihr Herz
entfernt werden würde: die untere und die obere Hohlvene durchtrennt, dann die
Aorta.
    Erzähl weiter.
    Sein Herz (unnötig zu sagen, wessen) wird
mit Kardioplegielösung durchspült.
    Das hört sich an wie Polierzeug fürs
Auto.
    Na, hoffentlich nicht. Die ist voller
Nährstoffe und Sauerstoff, und sie verhindert, dass das Herz schlägt, während
es sich aufwärmt.
    Und dann?
    Dann zieht das neue Herz in sein neues
Haus ein, hatte ich gesagt und ihr auf die Brust getippt. Zuerst werden die
linken Vorhöfe vernäht. Dann die untere Hohlvene, dann die obere Hohlvene, dann
die Lungenarterie und schließlich die Aorta. Wenn alle Verbindungen stehen,
wird die Aortaklemme entfernt, warmes Blut fließt in die Herzgefäße und ...
    Warte, lass mich raten: Das Herz fängt an
zu schlagen.
    Jetzt, Stunden später, strahlte Ciaire
von der Rolltrage zu mir hoch. Als Mutter einer Minderjährigen durfte ich sie
in den OP begleiten, in entsprechender Montur, bis sie narkotisiert war. Ich
saß auf einem Hocker, den mir eine Schwester hinstellte, inmitten von
blitzenden Instrumenten, leuchtenden Lämpchen. Ich versuchte, das vertraute
Gesicht des Chirurgen an seinen freundlichen Augen über der Maske zu erkennen.
    »Mom«, sagte Ciaire und griff nach meiner
Hand.
    »Ich bin bei dir.«
    »Ich hasse dich nicht.«
    »Ich weiß, Baby.«
    Die Anästhesiologin setzte Ciaire die
Maske aufs Gesicht. »Du mußt jetzt schön zählen, Ciaire. Von zehn rückwärts.«
    »Zehn«, sagte Ciaire und sah mir dabei in
die Augen. »Neun. Acht.«
    Ihre Lider senkten sich auf halbmast.
»Sieben«, sagte sie, doch bei der zweiten Silbe erschlafften ihre Lippen.
    »Sie können ihr einen Kuß geben, wenn Sie
wollen, Mom«, sagte eine Schwester.
    Ich streifte mit meiner Papiermaske die
sanfte Wölbung von Claires Wange. »Komm zurück zu mir«, flüsterte ich.
     
    MICHAEL
     
    Drei Tage nach Shays Tod und zwei Tage
nach seiner Beisetzung fuhr ich wieder zum Gefängnisfriedhof. Die Grabsteine
bildeten ein kleines Feld, jeder mit einer Nummer markiert. Shays Grab hatte
noch keinen, sondern war nur ein kleines erdiges Rechteck. Und doch war es das
Einzige, das Besuch hatte. Daneben, im Schneidersitz auf dem Boden, saß Grace
Bourne.
    Ich winkte, als sie aufstand. »Father«,
sagte sie. »Schön, Sie zu sehen.«
    »Ich freu mich auch«, erwiderte ich
lächelnd.
    »Ihre Predigt hat mir gefallen.« Sie
senkte den Blick. »Ich weiß, es hat nicht so ausgesehen, als hätte ich
zugehört, aber das hab ich.«
    Auf Shays Beisetzung hatte ich nicht aus
der Bibel gelesen. Ich hatte auch nicht aus dem Thomasevangelium gelesen. Ich
hatte ein eigenes Evangelium kreiert, die gute Botschaft
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