Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
Werbezettel für eine Sommerkirmes, der mit dem Winterwind
herangeweht kommt, sodass du dich fragst, wo er bloß die ganze Zeit gesteckt
hat.
    Er tat sich schwer damit, sein Anliegen
vorzubringen. »Ich möchte...«, setzte er an, hielt dann inne und begann von
vorn: »Haben Sie, kann ich, weil...« Ein dünner Schweißfilm trat ihm auf die
Stirn. »Kann ich irgendwas für Sie tun?«, fragte er schließlich schüchtern,
als Elizabeth zur Haustür gerannt kam.
    Oh ja, Sie können wieder gehen, dachte ich. Ich wollte schon die Tür schließen, instinktiv meine
Tochter schützen. »Nein, vielen Dank...«
    Elizabeth schob ihre Hand in meine und
blinzelte zu ihm hoch. »Bei uns im Haus sind viele Sachen kaputt«, sagte sie.
    Dann ging er in die Hocke, und meiner
Tochter gegenüber schien mit einem Mal alle Unsicherheit von ihm abzufallen.
Die Worte kamen ihm jetzt klar und ganz entschlossen über die Lippen: »Ich
kann euch helfen«, erwiderte er.
    Kurt sagte immer, dass keiner der ist,
für den man ihn hält, dass man die Vergangenheit eines Menschen vollkommen
durchleuchten muss, ehe man irgendwelche Versprechungen macht. Ich hielt ihm
dann entgegen, dass er zu misstrauisch sei, zu sehr Polizist. Schließlich hatte
ich ja Kurt einfach nur deshalb in mein Leben gelassen, weil er freundliche
Augen und ein gutes Herz hatte, und an dem, was dabei herausgekommen war,
konnte nicht mal er etwas auszusetzen haben.
    »Wie heißen Sie?«, fragte ich.
    »Shay. Shay Bourne.«
    »Sie sind engagiert, Mr. Bourne«, sagte
ich, der Anfang vom Ende.
     
    Sieben Monate später
     
    MICHAEL
     
    Shay Bourne war ganz anders, als ich erwartet hatte.
    Ich hatte mich auf einen Schrank von Mann
gefasst gemacht, einen mit Hammerfäusten und Stiernacken und verkniffenen
Augen, so schmal wie Schlitze. Immerhin ging es hier um das Verbrechen des
Jahrhunderts in unserer Gegend - ein Doppelmord, der ganz New Hampshire
aufgewühlt hatte. Ein Verbrechen, das um so schlimmer wirkte, weil die Opfer
ein kleines Mädchen und ein Polizeibeamter, noch dazu ihr Stiefvater, gewesen
waren. Es war die Art von Verbrechen, bei der man sich fragt, ob man in seinen
eigenen vier Wänden noch sicher ist, ob sich die Menschen, denen man vertraut,
nicht jeden Augenblick gegen einen wenden können - und vielleicht war das der
Grund, weshalb die Staatsanwaltschaft von New Hampshire zum ersten Mal seit
achtundfünfzig Jahren die Todesstrafe forderte.
    Der Medienrummel hatte zu Recht Zweifel
daran aufkommen lassen, ob es überhaupt noch möglich war, zwölf Geschworene zu
finden, die sich noch keine Meinung über die Tat gebildet hatten, dennoch
gelang es, uns ausfindig zu machen. Mich stöberten sie in der Unibibliothek
auf, wo ich meine Abschlussarbeit in Mathematik vorbereitete. Ich hatte seit
einem Monat keine anständige Mahlzeit mehr zu mir genommen, geschweige denn
eine Zeitung gelesen, und das machte mich zum perfekten Kandidaten für die
Jury im Mordprozeß gegen Shay Bourne.
    Als wir das erste Mal im Gänsemarsch aus
unserem kleinen Beratungsraum im Kammergericht kamen - wo ich mich schon bald
wie zu Hause fühlen würde -, dachte ich, der Gerichtsdiener hätte uns
vielleicht in den falschen Saal geführt. Der Angeklagte war klein und
schmächtig - jemand, der bestimmt als Kind zahllose Hänseleien hatte einstecken
müssen. Er trug eine Tweedjacke, in der er fast ertrank, und sein
Krawattenknoten stand beinahe senkrecht vom Hals ab, als würde er von einer
unsichtbaren Kraft abgestoßen. Die Hände, in Handschellen, ruhten schlaff in
seinem Schoß, und sein Haar war bis auf die Kopfhaut geschoren. Er hielt den
Blick gesenkt, selbst als der Richter seinen Namen nannte, der wie Dampf aus
einem Heizungsventil durch den Saal zischte.
    Der Richter und die Anwälte klärten
gerade irgendwelche Formalitäten ab, als die Fliege hereinkam. Sie fiel mir aus
zweierlei Gründen auf: Im März sieht man nicht viele Fliegen in New Hampshire,
und ich fragte mich, wie man es anstellen sollte, eine Fliege zu verscheuchen,
wenn man Handschellen trug, die an einer Kette um die Taille festgemacht waren.
Shay Bourne starrte auf das Insekt, als es auf dem Schreibblock vor ihm
landete, und dann hob er mit metallischem Klirren die gefesselten Hände und
ließ sie auf den Tisch krachen, um die Fliege zu töten.
    Das dachte ich zumindest, bis er die
Handflächen nach oben drehte, die Finger behutsam öffnete und das Insekt
davonschwirrte, um jemand anderen zu ärgern.
    In diesem Moment sah
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher