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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter
Autoren: Jodi Picoult
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und den Stoff in
Wallung brachte. Trotzdem ließen uns die Aufseher im Zelt nicht länger
verweilen - sie scheuchten uns förmlich durch getrennte Ausgänge auf den Hof.
Dann wurden wir aus dem Gefängnis geführt. Kaum waren wir draußen, fiel die
Presse über uns her. »Das ist gut«, sagte Rufus, vollgepumpt mit Adrenalin. »Das
ist unser großer Moment.« Ich nickte, aber meine Aufmerksamkeit galt June. Ich
sah sie nur flüchtig, eine kleine verhärmte Frau, die in ein wartendes Auto
stieg.
    »Mr. Urqhart«, sagte eine Reporterin,
während ihm gleichzeitig zwanzig Mikros vors Gesicht gehalten wurden, ein
Strauß schwarzer Rosen. »Möchten Sie einen Kommentar abgeben?«
    Ich trat zurück, beobachtete Rufus im
Rampenlicht. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Ich wusste, dass Rufus
Shay nicht instrumentalisieren wollte, dass er nur seine Arbeit als Leiter
unseres ACLU-Büros machte - und doch, wo war da der Unterschied zu Direktor
Coyne?
    »Shay Bourne ist tot«, sagte Rufus
nüchtern. »Die erste Hinrichtung in neunundsechzig Jahren... in dem einzigen
Erste-Welt-Land, in dem die Todesstrafe noch gesetzlich verankert ist.«
    Sein Blick schweifte über die Menge.
»Nach Ansicht mancher Leute halten wir in diesem Land an der Todesstrafe fest,
weil sie für bestimmte Straftaten angemessen sei. Sie sprechen ihr abschreckende
Wirkung zu - doch in Wahrheit liegt die Mordrate in Bundesstaaten, in denen die
Todesstrafe gilt, höher als in denen, in denen sie abgeschafft wurde. Angeblich
ist die Todesstrafe kostengünstiger als eine lebenslange Gefängnisstrafe -
doch in Wahrheit ist sie dreimal so teuer, wenn man die Kosten für die
Rechtsmittelverfahren im Laufe von elf Jahren mit berechnet. Manche Leute
sagen, die Todesstrafe sei wichtig für die Angehörigen der Opfer - sie sorge
für eine Art Abschluß, damit die Angehörigen endlich richtig trauern können.
Aber sorgt das Wissen, dass außer dem geliebten Menschen noch ein anderer
gestorben ist, wirklich für Gerechtigkeit? Und wie erklären wir die Tatsache,
dass ein Mord in einer ländlichen Region eher mit der Todesstrafe geahndet wird
als ein Mord in einer Großstadt? Oder dass die Todesstrafe bei einem Mord an
einem Weißen dreieinhalbmal öfter verhängt wird als bei der Ermordung eines
Schwarzen? Oder dass der Anteil der Frauen, die zum Tode verurteilt werden, gut
dreißig Prozent niedriger liegt als bei Männern.«
    Ohne recht zu merken, was ich tat, trat
ich neben Rufus. »Maggie«, flüsterte er, von den Mikros abgewandt. »Ich schaff
das schon allein.«
    Ein Reporter sprach mich an. »Sie sind
doch Shay Bournes Anwältin?«
    »Ja«, sagte ich. »Was mich hoffentlich
berechtigt, auch ein paar Worte zu sagen. Ich arbeite ebenfalls bei der ACLU.
Ich kann dieselben Statistiken aufzählen wie Mr Urqhart. Aber wissen Sie, was
ich dann auslassen würde? Dass mir June Nealons Verlust aufrichtig leid tut,
auch nach der langen Zeit. Und dass ich heute einen Menschen verloren habe, den
ich gemocht habe. Einen Menschen, der einige schwerwiegende Fehler begangen
hatte - einen Menschen, an den man schwer herankam -, aber dennoch einen
Menschen, dem ich in meinem Leben einen Platz eingeräumt habe.«
    »Maggie«, zischelte Rufus und zupfte an
meinem Ärmel. »Spar dir die Beichte fürs Tagebuch auf.«
    Ich ignorierte seine Worte. »Wissen Sie,
warum wir meiner Ansicht nach noch immer Menschen hinrichten? Weil wir, auch
wenn wir es nicht aussprechen, sicher sein wollen, dass wirklich schreckliche
Verbrechen auch wirklich schrecklich bestraft werden. So einfach ist das. Wir
wollen, dass die Gesellschaft enger zusammenrückt, wir wollen in Deckung gehen
und Schutzwälle errichten, und dafür müssen wir Menschen loswerden, die unserer
Ansicht nach unfähig sind, eine moralische Lektion zu lernen. Ich denke, die
Frage lautet: Wer entscheidet, welche Menschen das sind? Wer entscheidet,
welches Verbrechen so schrecklich ist, dass die einzige Antwort darauf der Tod
ist? Und was ist, wenn sie sich, Gott bewahre, irren?«
    Ein Raunen ging durch die Menge, die
Kameras liefen weiter. »Ich habe keine Kinder. Ich kann nicht sagen, ob ich
noch genauso reden würde, wenn eines meiner Kinder ermordet würde. Und auch
ich kenne die Antworten nicht - glauben Sie mir, sonst wäre ich um einiges
reicher. Aber wissen Sie was? Allmählich glaube ich, das ist auch gut so.
Vielleicht sollten wir, statt nach Antworten suchen, zur Abwechslung mal ein
paar Fragen stellen. Zum Beispiel:
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