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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor
Autoren: Jules Verne
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Jules Verne
    Die Chancellor
    Das Tagebuch des Passagiers J. R. Kazallon
    Mit 45 Illustrationen von Riou

    Titel der Originalausgabe:
    Le Chancellor (Paris 1875)
    Nach zeitgenössischen Übersetzungen
    überarbeitet von Günter Jürgensmeier
    1
    Charleston, 27. September 1869. – Um 3 Uhr nachmittags
    verlassen wir den Batterie-Kai. Rasch führt uns die Ebbe
    dem freien Meer zu. Kapitän Huntly hat alle Segel bei-
    setzen lassen, und der Nordwind treibt die ›Chancellor‹
    quer durch die Bai von Charleston. Bald ist Fort Sumter
    umschifft und die Batterien, die den Hafen bestreichen,
    liegen uns zur Linken. Um 4 Uhr passiert unser Schiff
    die enge Einfahrt, durch die bei sinkendem Wasser eine
    schnelle Strömung flutet. Von hier aus ist die eigentliche
    offene See freilich noch ziemlich weit entfernt und nur
    durch enge gefährliche Wasserstraßen zwischen ausge-
    dehnten Sandbänken zu erreichen. Kapitän Huntly biegt
    in das Fahrwasser nach Südwesten ein und hält auf den
    Leuchtturm an der linken Spitze von Fort Sumter zu.
    Die Segel werden so dicht wie möglich gegen den Wind
    gestellt, und um 7 Uhr abends bleibt der letzte Ausläu-
    fer der Sandbänke hinter unserem Fahrzeug zurück, das
    nun in den Atlantischen Ozean hinaussteuert.
    Die ›Chancellor‹, ein schöner Dreimaster von 900
    Tonnen, gehört dem reichen Haus der Gebrüder Leard
    in Liverpool. Das Schiff ist 2 Jahre alt, mit Kupfer be-
    kleidet, aus Teakholz gebaut und führt, außer dem Be-
    sanmast, Untermaste und Takelage aus Eisen. Das solide
    und schöne Schiff, beim Büro Veritas unter A1 klassifi-
    ziert, vollendet eben seine dritte Reise zwischen Charles-

    — 4 —
    — 5 —
    ton und Liverpool. Bei der Abfahrt aus Charleston hißte
    es die englische Flagge; ein Seemann hätte aber auch
    ohne sie seinen Ursprung auf den ersten Blick erkannt:
    es war wirklich, für was es sich ausgab, d.h. englisch von
    der Wasserlinie bis zur Mastspitze.
    An Bord der ›Chancellor‹, die jetzt nach England zu-
    rücksegelte, habe ich mich aus folgenden Gründen ein-
    geschifft:
    Zwischen South Carolina und dem Vereinigten Kö-
    nigreich besteht keine direkte Dampfverbindung. Um
    eine transatlantische Linie zu erreichen, müßte man
    entweder nach Norden hinauf bis New York gehen oder
    nach Süden hinunter, bis New Orleans. Zwischen New
    York und der alten Welt unterhalten verschiedene eng-
    lische, deutsche und französische Gesellschaften eine
    häufige und sichere Verbindung, und von dort aus hätte
    mich eine ›Scotia‹, ›Holsatia‹ oder ein ›Pereire‹ (be-
    kannte Schiffe jener Linien) schnell genug meinem Be-
    stimmungsort zugeführt. Zwischen New Orleans und
    Europa verkehren die Dampfer der National Steam Na-
    vigation Co., die sich an die französische Linie nach
    Colon und Aspinwall anschließen. Als ich aber auf
    den Kais in Charleston dahinging, sah ich die ›Chan-
    cellor‹. Das Schiff gefiel mir, und ich weiß nicht, wel-
    cher Instinkt mich an sein Bord trieb. Es ist übrigens
    recht bequem eingerichtet, und bei günstigem Wind
    und Meer – wobei die Schnelligkeit fast die der Damp-
    — 6 —
    fer erreicht – ziehe ich es nach allen Seiten hin vor, mit
    einem Segelschiff zu reisen. Zu Anfang des Herbsts hält
    sich in diesen niedrigen Breiten die Witterung noch
    sehr schön. Ich entschied mich also für die Überfahrt
    auf der ›Chancellor‹.
    Habe ich daran wohl getan? Werde ich es zu bereuen
    haben? Die Zukunft wird es lehren. Ich will meine Beo-
    bachtungen täglich notieren, und jetzt, da ich schreibe,
    weiß ich selbst noch nicht mehr als die Leser dieses Ta-
    gebuchs, wenn es überhaupt jemals Leser findet.
    2
    28. September. – Ich erwähnte schon, daß der Kapitän
    der ›Chancellor‹ Huntly heißt – mit Vornamen John
    Silas. Er ist ein Schotte aus Dundee, etwa 50 Jahre alt
    und macht den Eindruck eines erfahrenen Ozeanschif-
    fers. Bei nur mittlerer Körpergröße sind seine Schultern
    nicht breit, sein Kopf, den er aus Gewohnheit immer
    nach der linken Seite neigt, ist etwas klein. Ohne Phy-
    siognomiker ersten Ranges zu sein, glaube ich schon,
    auch wenn ich Kapitän Huntly erst seit wenigen Stun-
    den kenne, ein Urteil über ihn abgeben zu können.
    Daß Silas Huntly das Ansehen eines guten Seemanns
    habe und in seinem Fach wohlunterrichtet sei, dem wi-
    derspreche ich nicht; daß in diesem Mann aber ein fes-

    — 7 —
    — 8 —
    ter Charakter stecke, der unbeugsam jeder Prüfung ent-
    gegenträte, nein,
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