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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter
Autoren: Jodi Picoult
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über Shay Bourne, und
hatte aus tiefstem Herzen zu den wenigen Menschen gesprochen, die gekommen
waren: Grace, Maggie, Alma die Krankenschwester.
    June Nealon war nicht gekommen. Sie war
im Krankenhaus bei ihrer Tochter, die sich von der Herztransplantation erholte.
Sie hatte einen Lilienzweig für Shays Grab geschickt. Er lag noch da und
verwelkte.
    Maggie hatte mir erzählt, dass Claires
Arzt begeistert gewesen war über den Ausgang der Operation, dass das Herz
losgeschlagen hatte wie wild. Ciaire durfte schon Ende der Woche nach Hause.
»Haben Sie von der Transplantation gehört?«, fragte ich.
    Grace nickte. »Ich weiß, dass er sich
darüber freut, wo immer er jetzt ist.« Sie klopfte sich den Rock ab. »Tja, ich
wollte gerade gehen. Ich muss zurück nach Maine, meine Schicht fängt um sieben
an.«
    »Ich ruf Sie in ein paar Tagen an«, sagte
ich, und das war mein Ernst. Ich hatte Shay versprochen, mich um Grace zu kümmern,
aber ich glaube, ehrlich gesagt, dass er noch etwas damit bezweckte: Sie sollte
sich auch um mich kümmern. Irgendwie hatte Shay gewusst, dass ich ohne die
Kirche auch eine Familie brauchte.
    Ich setzte mich hin, auf dieselbe Stelle,
auf der Grace gesessen hatte. Ich seufzte, beugte mich vor und wartete.
    Das Problem war, dass ich nicht genau
wusste, worauf ich wartete. Drei Tage waren seit Shays Tod vergangen. Er hatte
mir gesagt, er würde zurückkommen - eine Auferstehung -, aber er hatte mir
auch gesagt, dass er Kurt Nealon mit Absicht getötet hatte, und es gelang mir
nicht, diese beiden Gedanken unter einen Hut zu bringen.
    Ich wusste nicht, ob ich Ausschau nach einem
Engel halten sollte, wie Maria Magdalena einen gesehen hatte. Ein Engel, der
mir sagen würde, dass Shay sein Grab verlassen hatte. Ich wusste nicht, ob er
mir einen Brief geschickt hatte, der womöglich am Nachmittag bei mir ankam. Ich
wartete wohl irgendwie auf ein Zeichen.
    Ich hörte Schritte und sah Grace eilig
zurückkommen. »Ich hätte fast vergessen, Ihnen das hier zu geben.«
    Es war ein großer Schuhkarton, mit einem
Gummiband drum herum. Die grüne Pappe löste sich an den Ecken bereits auf und
hatte Wasserflecken. »Was ist da drin?«
    »Die Sachen von meinem Bruder. Direktor
Coyne hat sie mir gegeben. Und drinnen lag ein Brief von Shay. Er wollte, dass
Sie sie kriegen. Ich hätte Ihnen den Karton schon auf der Beerdigung gegeben,
aber in dem Brief stand, ich soll ihn Ihnen heute geben.«
    »Nein, behalten Sie die Sachen«, sagte
ich. »Sie sind doch seine Familie.«
    Sie sah mich an. »Sie auch, Father
Michael.«
    Als sie gegangen war, setzte ich mich
wieder neben Shays Grab. »Hast du das gemeint?«, sagte ich laut. »Sollte ich
hierauf warten?«
    In dem Karton lagen eine Segeltuchrolle
mit Werkzeug und drei Packungen Kaugummi.
    Er hatte nur ein einziges Stück Kaugummi, hörte ich Lucius sagen, und es hat für uns alle gereicht.
    Dann entdeckte ich noch etwas, ein
kleines, flaches, in Zeitungspapier eingewickeltes Päckchen. Das Klebeband war
brüchig, das Papier vergilbt. Als ich es auspackte, kam ein zerknittertes
Foto zum Vorschein, und mir stockte der Atem: Es war das Foto, das mir damals
aus meinem Studentenzimmer gestohlen worden war, das Foto, auf dem mein
Großvater und ich nach dem Fliegenfischen stolz unseren Fang zeigten.
    Wieso hatte er etwas mitgehen lassen, ein
Bild, das für einen Fremden doch wertlos sein musste? Ich berührte mit dem Daumen
das Gesicht meines Großvaters und erinnerte mich plötzlich daran, wie Shay von
dem Großvater sprach, den er nie gehabt hatte - den er sich vorgestellt hatte,
nachdem er dieses Foto gesehen hatte. Hatte er es geklaut, weil es ihm vor
Augen führte, was ihm in seinem Leben gefehlt hatte? Hatte er es sich immer
wieder angesehen, sich gewünscht, er wäre ich?
    Dann fiel mir noch etwas ein: Das Foto
war mir gestohlen worden, ehe ich als Geschworener für Shays Prozess ausgewählt
worden war. Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Möglicherweise hatte Shay mich
erkannt, als er mich im Gerichtssaal sitzen sah. Möglicherweise hatte er mich
wiedererkannt, als ich ihn das erste Mal im Gefängnis besuchte. Möglicherweise
war ich die ganze Zeit der unwissende Dumme, der Ahnungslose gewesen.
    Ich wollte das Zeitungspapier zerknüllen,
in dem das Foto eingeschlagen gewesen war, doch da merkte, dass es gar keine
Zeitung war. Dafür war es zu dick. Es war eine herausgerissene Buchseite. Nag-Hammadi-Bibliothek stand
oben auf dem Blatt, in winzigen Druckbuchstaben.
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