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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter
Autoren: Jodi Picoult
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Das Thomasevangelium, Erstveröffentlichung 1977. Ich fuhr mit der Fingerspitze über die vertrauten Verse: Jesus sprach: Wer die Bedeutung dieser Worte findet, wird den Tod
nicht kosten.
    Jesus sprach: Die Toten sind nicht
lebendig, und die Lebendigen werden nicht sterben.
    Jesus sprach: Lügt nicht.
    Jesus sprach.
    Und das hatte Shay auch getan, nachdem er
Jahre Zeit gehabt hatte, diese Seite auswendig zu lernen.
    Frustriert zerriß ich das Blatt in kleine
Stücke und warf sie auf den Boden. Ich war wütend auf Shay; ich war wütend auf
mich selbst. Ich vergrub das Gesicht in den Händen, und dann spürte ich, wie
Wind aufkam. Das Konfetti von Worten wirbelte auf.
    Ich lief den Papierschnipseln hinterher.
Als sie an Grabsteinen hängen blieben, fing ich sie mit den Händen. Ich stopfte
sie in die Tasche. Ich zupfte sie aus dem Unkraut, das am Rand des Friedhofs
wuchs. Einem einzelnen Schnipsel jagte ich bis zum Parkplatz nach.
    Manchmal sehen wir, was wir sehen wollen,
nicht das, was wir direkt vor der Nase haben. Und manchmal sehen wir alles
andere als klar. Ich ging mit allen Schnipseln, die ich hatte einsammeln
können, zurück zum Friedhof und grub unter dem Lilienzweig eine flache Mulde,
legte dann die Papierschnipsel hinein und bedeckte sie mit einer dünnen
Schicht Erde. Ich stellte mir vor, wie das vergilbte Papier sich im Regen
auflöste, von der Erde aufgenommen wurde, fahl unter Winterschnee lag. Ich
fragte mich, was wohl im nächsten Frühling sprießen würde.
    Es gibt zwei Arten,
sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre
alles ein Wunder.
     
    Albert Einstein
    Epilog
     
    CLAIRE
     
    Ich bin nun seit drei Wochen jemand
anderes. Es ist mir nicht anzusehen; nicht mal ich kann es sehen, wenn ich in
den Spiegel schaue. Ich kann es nur auf eine Art beschreiben, und es ist echt
irre, also machen Sie sich auf was gefasst: Es ist wie Wellen. Die erfassen
mich einfach, und plötzlich, selbst wenn zig Leute um mich herum sind, bin ich
einsam. Selbst wenn ich gerade Sachen mache, die ich gern mache, fang ich an zu
weinen.
    Meine Mutter sagt, das Gefühl wird nicht
mit dem Herzen transplantiert, dass ich aufhören muss, es seins zu nennen, und
anfangen muss, es als meins zu bezeichnen. Aber das ist ganz schön
schwer, erst recht wenn man bedenkt, wie viel Zeug ich schlucken muss, damit
meine Zellen diesen Eindringling in meiner Brust nicht erkennen, wie in dem
alten Horrorfilm mit der Frau, die einen Alien in sich hat. Colace, Dulcolax, Prednison,
Zantac, Enalapril, CellCept, Prograf, Oxycodon, Keflex, Magnesiumoxyd,
Nystatin, Valcyte. Dieser
Cocktail soll meinen Körper an der Nase herumführen. Die Frage ist bloß, wie
lange er drauf reinfällt.
    Ich seh das so, entweder gewinnt mein
Körper, und ich stoße das Herz ab - oder ich gewinne. Und werde, wer er früher
war.
    Meine Mutter sagt, dass ich das alles
durchstehen werde, und deshalb muss ich Celaxa nehmen (ach ja, das Medikament
hatte ich eben vergessen) und zweimal pro Woche mit einem Psychologen reden.
Ich nicke und tu so, als würde ich ihr glauben. Sie ist im Moment so glücklich,
aber die Art von glücklich, die wie eine Tortenverzierung aus Zuckerguss ist:
Wenn du zu fest dran stößt, zerkrümelt sie.
    Aber eines muss ich sagen: Es tut gut, zu
Hause zu sein. Und dass mich nicht mehr drei- oder viermal am Tag ein
Blitzschlag von innen zerreißt. Und ich nicht bewußtlos werde und mich nach dem
Aufwachen frage, was passiert ist. Und die Treppe hochgehen kann - bis ganz
oben! -, ohne in der Mitte verschnaufen zu müssen oder mich tragen zu lassen.
    »Ciaire?«, ruft meine Mutter. »Bist du
wach?«
    Heute kriegen wir Besuch. Von einer Frau,
die ich nicht kenne, obwohl sie mich anscheinend schon mal gesehen hat. Sie ist
die Schwester von dem Mann, der mir sein Herz gegeben hat: Sie ist einmal bei
mir im Krankenhaus gewesen, als ich total weggetreten war. Ich bin echt nicht
scharf darauf, sie zu sehen. Wahrscheinlich bricht sie zusammen und heult
(würde ich jedenfalls an ihrer Stelle) und läßt mich nicht aus den Augen, bis
sie irgendeine Kleinigkeit an mir entdeckt, die sie an ihren Bruder erinnert,
auch wenn sie sich das nur einredet.
    »Ich komme«, sage ich. Ich stehe seit
geschlagenen zwanzig Minuten vor dem Spiegel, mit nacktem Oberkörper. Die
Narbe, die noch nicht ganz verheilt ist, sieht aus wie ein wütender roter
Schlitz von einem Mund. Jedes Mal, wenn ich drauf gucke, stell ich mir vor, was
er wohl
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