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Das Herz der Puppe

Das Herz der Puppe

Titel: Das Herz der Puppe
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Olgas Mann noch lebte, kamen sie immer zusammen mit einem Auto, das so laut war, dass sich Ninas Vater bei den Nachbarn in der alten Straße entschuldigen musste. Er nannte das Auto immer noch »Traktor«, wenn sie darauf zu sprechen kamen. Jetzt aber fuhr die Tante mit der Straßenbahn und grüßte die Nachbarn, die ihr zuwinkten, wenn sie von der nahen Haltestelle kam. Tante Olga grüßte mit erhobener rechter Hand wie eine Olympiasiegerin.
    Die Tante liebte Ninas Mutter, als wäre sie ihre eigene Tochter. Sie hatte selbst keine Kinder und war unendlich stolz auf ihre Nichte, die eine Akademikerin war. Unter den neugierigen Blicken der Nachbarn marschierte sie immer mit einem Korb voller Leckereien ins Haus. Tante Olga hatte einen großen garten voller Obst, aus dem sie alle erdenklichen Sorten Marmelade und Sirup machte.
    »Alles Liebio«, sagte sie, wenn sie die Leckereien überreichte. Das Wort hatte sie erfunden, und es bedeutete, dass alles mit Liebe selbst gemacht und dazu noch biologisch war. Es schmeckte alles umwerfend gut.
    Auch dieses Mal hatte die Mutter den großen Teller mit den sorgfältig geordneten Pralinen von dem hohen Regal geholt und auf den Tisch gestellt. Und wie immer sagte die Tante: »Aber das war doch nicht nötig!«, nahm eine große Praline und lachte.
    »Das ist aber eine ulkige Frau. Sie sagt, was sie selbst nicht glaubt«, flüsterte Widu.
    Nina nickte schweigend und heftete ihren Blick auf eine Praline mit einer Pistazie oben auf dem Schokoladenmantel. Sie sah so unglaublich lecker aus, aber Nina hatte viel zu viel Angst, um danach zu greifen.
    Und dann war die Angst auf einmal weg! Widu hatte sie fast hörbar aus Ninas Brust gesaugt. Und schon streckte Nina mutig die Hand nach der Praline aus. Tante Olga lächelte ihr sogar zu. Und, schwupp, war die Köstlichkeit in Ninas Mund verschwunden.
    Ninas Mutter, die gerade sprudelnd heißes Wasser über das Kaffeepulver im Filter goss, hatte alles gesehen. Sie hob die Augenbrauen und stellte den Wasserkessel ab.
    »Nina!«, sagte sie nur. Dann nahm sie ihre Tochter am Arm und führte sie in den Korridor. Sie schloss die Küchentür hinter sich und flüsterte leise, aber bestimmt: »Geh auf dein Zimmer! Wir sprechen später darüber.«
    Dann kehrte sie zu Tante Olga in die Küche zurück. Tante Olga hörte nicht mehr so gut und hatte gar nichts mitgekriegt.
    Ein bisschen geknickt, aber mit herrlichem Schokoladegeschmack im Mund ging Nina auf ihr Zimmer. Dort legte sie das Ohr an die Tür und war froh, als sie Mutter und Tante Olga schon bald laut lachen hörte.
    »Was hast du denn?«, fragte Widu. »Lauschst du, ob die Luft rein ist, dass du dir noch eine Praline schnappen kannst?«
    »Hast du nicht gesehen, wie sauer Mama geworden ist?«, fragte Nina. »Und sie wird noch mehr mit mir schimpfen, wenn Tante Olga weg ist.«
    »Ach was!«, sagte Widu. »Mach dir keine Sorgen. Bis dahin hat sie das längst vergessen. Sie lacht ja jetzt schon, dass die Lampen wackeln.«
    »Hast du eine Ahnung. Sie wird mit mir schimpfen, und Papa wird sie auch davon erzählen«, sagte Nina besorgt.
    »Ach was!«, sagte Widu wieder. »Glaub mir, ich weiß eine ganze Menge über Mütter. Was glaubst du, wie viele ich schon kennengelernt habe. Ich schwöre dir, bis die Tante geht, hat sie die Praline und ihren Ärger längst vergessen. Und jetzt komm, lass uns spielen!«
    »Na schön«, sagte Nina, »wenn du meinst.«
    Sie spielten Ich sehe was, was du nicht siehst , und erst war Nina nur halb bei der Sache, aber dann vergaß sie ihren Kummer, und erst am nächsten Tag fiel ihr ein, dass Widu recht gehabt hatte. Die Mutter hatte die Praline wirklich vergessen.
    »Und warum hat Mama vergessen, mit mir zu schimpfen?«, wollte sie von Widu wissen.
    »Weil der liebe gott die Mütter vergesslich macht.«
    »Und warum?«
    »Weil er sie liebt.«
    »Weil der liebe gott Mütter liebt, macht er sie vergesslich? Das hört sich aber komisch an.«
    »Das ist komisch«, sagte Widu. »Aber es ist auch weise. Pass auf, es ist so: gott schickt den Müttern seine Reinigungstruppe, die bringt den groll der Mütter gegen ihre Kinder weg und belohnt sie dafür mit Lachen. gott weiß nämlich, dass die Kinder unschuldig sind, und er weiß auch, dass die Mütter ihm dankbar sein werden, weil er den groll hat wegbringen lassen. glaub mir: Sobald deine Mutter nach einem Streit mit dir wieder lacht, kannst du sicher sein, dass die Reinigungstruppe schon da war.«
    »Und wo bringen sie den
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